Von einem Engel und dem Fliegen
Immer wenn der kleine Timm einmal frei haben sollte von seinen Eltern, wurde er in ein Auto gesetzt und zu seinen Großeltern chauffiert. Für ihn waren es Festtage, denn dort war er König. Oma Evelin las ihm jeden Wunsch von den Lippen ab, kaufte ihm das größte Schnitzel, das der Schlachter im Angebot hatte, kochte Pudding, Vanille, Karamell oder Schokolade, ganz wie Timm es mochte. Sogar auf dem Fußboden im Flur rutschte sie mit ihm herum und schob die Spielzeugautos, die Timm mitgebracht hatte, über das Parkett. Und auch Opa Sigfrit hatte seine Einsätze, spielte mit Timm im Garten Fußball oder sie beide tranken am Abend ein Vitamalz, Kinderbier wie sie es nannten, und da fühlte sich der kleine Timm schon reichlich erwachsen.
Das Größte für Timm war es jedoch, wenn er sich abends in seine Bettdecke im Gästezimmer eingemümmelt hatte und Opa Sigfrit noch einmal zu ihm zu Besuch kam. Sigfrit, wie es sich aus seinem Doppelnamen Siegfried Friedrich zusammensetzte, dessen Kurzfassungen Siggi und Fritz wiederum Sigfrit ergaben. Die Betonung von t statt d am Ende war äußerst wichtig, denn es sprach sich wie Pommes Frittes aus, aber eben nur mit der Silbe Sig statt Pommes davor, was also, um es nun abzukürzen, Sigfrit ergab.
Wie üblich also, wenn Opa Sigfrit vorbeischaute, ließ er sich in den alten Sessel im Gästezimmer neben dem Bett fallen und der kleine Timm gab vor, nicht besonders müde zu sein, wenngleich er vom langen Tag total geschafft war, sich als König jedoch diese kleine Lüge erlaubte, um in den Genuss einer Geschichte aus Opas großem Repertoire zu kommen. Inzwischen war es kein faires Spiel mehr, ging es dem kleinen Timm durch den Kopf, denn Opa Sigfrit hatte er bislang noch jedes Mal überzeugen können.
„Es war einmal ein kleiner Junge…“, begann dieser bereits mit seiner betont ruhigen Stimme, und da ahnte Timm schon, was folgen würde, denn waren Opas Sigfrits Geschichten in letzter Zeit nicht nur immer merkwürdiger geworden, neuerdings begann er auch immer wieder mit der gleichen. Gleich würde sich der kleine Junge im Wald verirren, eine Fee auftauchen und ihm drei Wünsche schenken. Für die ersten beiden würde Timm dann wieder eine Puddingsorte bestellen, ein Trikot oder ein neues Spielzeugauto, für den dritten jedoch wie immer, dass sich seine Eltern nicht mehr so oft streiten würden.
„Die Geschichte ist blöd“, sagte der kleine Timm diesmal aber gleich, als die Fee im dunklen Wald auftauchte, um dem kleinen Jungen zu helfen. „Außerdem hast du sie mir schon tausendmal erzählt.“
„So?“, sagte Opa Sigfrit. „Eine Geschichte wird doch nicht schlechter, wenn man sie oft erzählt“, versuchte er Timm mit seiner besonnenen Art zu beschwichtigen. „Außerdem erfüllt die Fee dem Jungen sicher wieder ein paar Wünsche.“
„Ich glaube aber nicht mehr an Feen“, maulte Timm. „Sie kann ja doch nichts machen.“
„Was machen?“
„Das Mama und Papa sich vertragen.“
„Das ist auch nicht so einfach…“, holte Opa Sigfrit aus.
„Siehst du. Es gibt nämlich gar keine Feen.“
Opa Sigfrit kratzte sich an seinem Kinn. Einmal hatte er erzählt, dass jedes grau gewordene Barthaar für eine erlebte Geschichte stand und er hatte dem kleinen Timm eine Menge davon erzählt – zumindest von denen, die für Männer, die noch Kinderbier tranken, so pflegte er sich auszudrücken, geeignet waren.
„Du glaubst also nicht an Feen?“, fragte Opa Sigfrit.
„Nein.“
„Auch nicht an Engel?“
„Nein.“
„Dann erzähle ich dir eine andere Geschichte.“
„Haha, Opa. Du glaubst doch nicht an Engel?“ Und da lachte Timm, so wie es kleine Kinder taten, wenn sie über einen Erwachsenen lachten, wenn sie ihn nicht mehr für erwachsen halten konnten.
„Und ob. Ich bin selbst schon einmal einem begegnet“, antwortete Opa Sigfrit ernst und da verstummte Timm so plötzlich wie er zu Lachen begonnen hatte. Denn wenn Opa Sigfrit etwas ernst sagte, dann meinte er es auch so.
„Dann erzähl mir davon“, bat Timm vorsichtig und war nun wirklich nicht mehr müde und gar nicht mehr kaputt von dem langen Tag.
„Ich habe die Geschichte noch niemandem erzählt.“
„Nicht mal Oma?“
„Auch nicht Oma.“
„Dann erzähl sie mir. Ich behalte sie auch für mich. Versprochen.“
„Versprochen?“
„Versprochen. Nicht mal Mama oder Papa erzähle ich sie. Und Oma auch nicht.“
„Okay, Timm. Mal sehen, ob ich sie noch zusammenkriege, denn das ist schon ziemlich lange her“, sagte Opa Sigfrit, wie er das inzwischen oft sagte, denn manche Sachen schienen wirklich so lange her zu sein, dass er sich offenbar kaum noch daran erinnern konnte. „Es war also ein junger Mann. Der war ein Mann, aber irgendwie auch noch ein Junge. Das ist jetzt schwer zu erklären, Timm. Also, er war mehr ein Mann, da er nicht mehr ganz jung war, aber er war auch noch ein Junge, denn er war auch noch kein Mann. Also, er fühlte sich nicht immer so…“
„Ist ja egal, Opa“, meinte Timm nachsichtig und winkte ab. „Also du bist der Mann?“
„Es ist die Geschichte“, sagte Opa Sigfrit ausweichend. „Also, dieser Mann hatte sich nie besonders viel zugetraut und er war kein großer Abenteurer gewesen, aber eines Tages wurde er zum Mond geschossen.“
„Zum Mond geschossen?“
„Ja, das ist etwas schwer zu erklären, Timm. Jemand hat ihn zum Mond geschossen, und daher nannte man ihn auch nur noch den Mondfahrer, weil er nur noch nachts rausging und die Tage im Bett verbrachte. Und dann reiste er ganz weit weg, weil es im Bett zu langweilig wurde und er sich selbst nicht mehr aushalten konnte…“
„Wie kann er sich denn nicht mehr selbst aushalten?“
„Ja…“, überlegte Opa Sigfrit. „Das ist wie mit Mama und Papa, nur alleine. Man streitet sich nur noch mit sich selbst.“
„Aha. Und wo ist jetzt der Engel?“
„Ach ja, der Engel. Er ist also weit weggereist und ist an einem Ort erwacht, an dem alles voller Schnee war. Das klingt erstmal schön, aber es war leider ein sehr einsamer Ort. Es gab keinen Fußball, keine Autos, keine Menschen. Alles war nur weiß.“
„Und dann?“
„Er hatte ja diesen Ballon.“
„Welchen Ballon?“
„Einen Heißluftballon. Mit dem ist er geflogen und damit hat er die Welt entdeckt und sich selbst.“
„Sich selbst?“, fragte der kleine Timm und fühlte sich längst bestätigt, dass Opa Sigfrits Geschichten immer merkwürdiger worden. Mama hatte sowas auch schon gemeint, wie er sich nun erinnerte, nicht alles glauben zu sollen, was ihm Opa Sigfrit erzählte.
„Es gibt Moment im Leben, da drückt einen etwas und dann muss man weg. Und manchmal zieht einen etwas an. Dann muss man dahin. Man kann den Ballon von zwei Seiten betrachten. Wenn du etwas willst und es dich drückt, kannst du es hinter dir lassen. Wenn dich etwas zieht und du es haben kannst, liegt es vor dir und du kannst dort ankommen.“
„Verstehe ich nicht.“
„Ich auch nicht mehr so recht. Lass mich überlegen. Also, man kann einen Ballon von zwei Seiten sehen. Entweder wie er auf dich zu- oder von dir wegfliegt. Nur der Ballon fliegt immer weiter an den Ort, der vor dir liegt. Das ist die Sache mit Raum und Zeit.“
„Opa“, sagte der kleine Timm streng, denn er war immer noch der König. „Das soll ich verstehen? Erzähl mir lieber, wie die Geschichte weitergeht.“
„Ja, also Timm. Dieser Ort, an dem der Mann war, kann ganz schön dunkel sein trotz des ganzen Schnees. Wenn es nämlich Nacht ist, ist alles schwarz. Es gibt doch kein Licht, Nur einmal im Leben kommt ein Mann bestimmt dorthin, manchmal sogar öfter.“
„Hmm… und wie heißt dieser Ort?“
„Alaska.“
„Alaska?“
„Ja, Alaska. Es ist soweit weg, wie du es dir gar nicht vorstellen kannst, aber um dahin zu kommen, braucht man Mut und viel Kraft. Und um dort wieder wegzukommen manchmal noch viel mehr.“
„Okay, Opa, und wo ist jetzt der Engel?“
„Ja..“, Opa Sigfrit kratzte sich wieder am Kinn. „Also, wenn du Alaska erkundet hast, kommt ein Tag, an dem wieder die Sonne aufgeht. Dann nimmst du den Ballon und fliegst wieder nach Hause.“
„Meinst du, ich kann das auch machen? Ballonfahrer sein?“
„Bestimmt, du musst nur daran glauben.“
„Wie an Feen?“
„Genau. Weißt du nämlich, wie sie diesen jungen Mann auch genannt haben?“
„Keine Ahnung.“
„Den Luftschloss-Architekt.“
„Den Luftschloss-Architekt? Opa, die Geschichte ist blöd. Ich verstehe überhaupt nichts mehr. Und der Engel kam immer noch nicht vor.“
„Gleich. Der junge Mann, der nun langsam gar nicht mehr so jung war, hat nämlich immer an Geschichten und Dinge geglaubt, die kaum jemand sehen konnte. Er hat von Sachen gesprochen und geträumt, die es so gar nicht gab, und hat sich eine eigene Welt gebaut. Das nennt man Luftschloss.“
„Also ist der Engel auch ein Luftschloss?“
„Timm, pass auf. Der junge Mann war nicht nur ein Architekt, sondern auch ein Handwerker. Da hat er sich Leitern gebaut, die so groß waren, dass er damit in seine Luftschlösser klettern könnte.“
„Zu dem Engel?“
„Na ja, also der Engel“, Opa Sigfrit seufzte. „Der junge Mann flog also zurück nach Hause und da er nicht ganz aufmerksam gewesen war, hatte er sich mit seinem Treibstoff verkalkuliert. So kam es, dass er mit seinem Ballon abgestürzt ist, noch bevor er zu Hause angekommen ist.“
„Endlich… jetzt wird es spannend.“
„Er ist dicht an einem Ort abgestürzt, an dem auch dieser Engel war. Sie hatte gebrochene Flügel und konnte selbst nicht fliegen, und da es dem Mann genauso ging, unterhielten sie sich über dies und das und über ihr Leben. Nur gab es auch eine Wand zwischen ihnen und sie konnten sich nie dabei sehen.“
„Das ist blöd. Wie sah denn der Engel überhaupt aus?“
„Wie eine Frau.“
„Eine Frau?“
„Eine schöne Frau.“
„… die nicht fliegen kann.“
„Timm“, ermahnte ihn Opa Sigfrit, was er nicht häufig tat. „Der junge Mann konnte also nicht weiterfliegen. Sein Ballon war zerstört und er hatte auch den Mut verloren, es jemals wieder nach Hause schaffen zu können. Er konnte aber auch nicht durch diese Wand und zu dem Engel, den er so gerne fliegend gesehen hätte. Trotzdem hat sie ihm geholfen.“
„Wie denn das?“
„She showed me love“, murmelte Opa Sigfrit.
„Was?“, hakte Timm nach, denn selbstredend war er der englischen Sprache noch nicht mächtig.
„Sie hat ihm zugehört.“
„Zugehört?“
„Weißt du, vieles hat sich geändert in dieser Welt. Wir bauen Maschinen, leben teilweise wie Roboter. Wir haben Computer vernetzen uns damit, aber das alles gibt es schon. Und es wird immer so bleiben. Es wird immer das sein, was zwischen den Menschen passiert. Und da gibt es auch die Engel.“
„Du bist mit einem Ballon geflogen und hast einen Engel getroffen? Opa, das soll ich dir glauben?“
„Vielleicht“, antwortete Opa Sigfrit und schien sich selbst nicht mehr so sicher.
„Wo soll das denn gewesen sein?“
„Hmm… es war was mit diesem Zirkus“, überlegte Opa Sigfrit.
„Zirkus?“
„Es ist ein Platz, der so heißt und er ist weit weg von hier.“
„Und was ist dann passiert?“
„They flied together.“
„Was?“
„Der junge Mann und der Engel haben einander ihre Geschichten erzählt, miteinander Zeit verbracht, bis sie beide eines Tages wieder fliegen konnten. Der junge Mann hat Mut gefasst und seinen Ballon repariert und die Engel vom Flügel sind ebenso geheilt.“
„Und dann seid ihr zusammen weitergeflogen?“
„Du meinst, der junge Mann und der Engel?“
„Du und der Engel.“
„Das überlege ich auch gerade“, sagte Opa Sigfrit und seufzte. „Eine Zeitlang auf jeden Fall. Da war noch was mit dem Himmelstürmer. So haben sie ihn auch genannt, nur das war eine andere Geschichte. Die kriege ich gerade nicht mehr zusammen.“
„Nicht schlimm, Opa“, sagte der kleine Timm. „Ich glaube, ich werd‘ eh grad müde. Erzähl mir nur noch eine Geschichte“, bestimmte er, denn er war der König und hatte noch ein paar Wünsche frei. „Die mit der Fee und dem Jungen, der sich im Wald verirrt.“
Und da lächelte Siegfrid Friedrich, wenn er abends so im Bett lag und an diese Geschichte dachte.
Peter Steinz meint
Interessante Idee und schöne Geschichte. Hierzu zwei kleine minimale Anmerkungen:
– Die Namenserklärung von Sigfrit ist witzig und gut, jedoch zu abrupt (aus dem Zusammenhang gerissen) eingeleitet. Sprich: Der erste Satz des zweiten Absatzes über Timm gehört eigentlich noch zum ersten Absatz und die davon unabhängige Namenserklärung sollte evtl. schon vorher, bei der ersten Nennung des Namens geschehen.
– Dem kleinem Tim wird es nicht aufgefallen sein, da er es noch nicht versteht, aber es heißt “flew” und nicht “flied”… 😉
janmikael meint
danke für die Korrektur/Anregung – Opa Sigfrit ist kein native Speaker. Sehen Sie ihm diesen Fehler nach 😀