Kuniberts Großvater erklärt Weihnachten
Einmal hatte sich Kunibert ganz schrecklich betrogen gefühlt. Es war zu einer Zeit gewesen, als die Post auch noch für das Telefon zuständig gewesen war, da hatte er in der Küche einen Brief gefunden. Nur es war sein Brief gewesen – sein Brief an den Weihnachtsmann, den er bereits seit Monaten in der Post gewähnt hatte. Seine Wünsche waren zwar in Erfüllung gegangen, nun aber hatte er den Beweis in Händen gehalten, dass es den Weihnachtsmann gar nicht gab. Seine Eltern hatten ihm schon lange etwas vorgespielt gehabt, und so war es zur ersten bitteren Enttäuschung in Kuniberts bis dahin noch jungen Leben gekommen.
Kunibert Eder: Der Haas-Effekt.mp3
Großvater weiß immer Rat
In so einem Fall hatte nur Großvater helfen können, und da er im gleichen Haus wohnte, war Kunibert sofort zu ihm gerannt. Opa war ein toller Mensch gewesen, dachte er. Er hatte immer viel gearbeitet, nie etwas von seinem Ärger mit nach Hause gebracht und sich stets mit Tee und Butterbrot begnügt. „Man braucht nicht mehr als man braucht“, hatte er zu sagen gepflegt. Aufschnitt hatte nicht dazu gehört und Luxus hatte für ihn schon beim morgendlichen Aufdrehen des Wasserhahns begonnen. Und seine größte Leidenschaft hatte einfach darin bestanden zu reparieren. Nicht nur Gegenstände, auch zwischen den Menschen, wenn dort etwas kaputt gegangen war.
Kuniberts Großvater hatte in der Küche gesessen und ein paar Drähte zusammen gelötet. Über den Flur hatten sich kreuz und quer etliche Kabel geschlängelt, das war ihm gleich aufgefallen, erinnerte sich Kunibert. „Kuno, da kommst du aber genau richtig“, hatte sein Großvater zunächst nur gesagt, nachdem Kunibert ihm sein Leid geklagt hatte. „Sei nicht böse auf deine Eltern. Das ist nur der Haas-Effekt.“ Sein Großvater hatte geschmunzelt und den Lötkolben zur Seite gelegt. „Du kommst wirklich genau richtig.“ Dann hatte er Kunibert etwas von der ersten Wellenfront erzählt und dass der Mensch etwas in der Richtung vermuten würde, von wo aus die erste Schallwelle eintreffe.
Woher die Melodie kommt
Zum Beweis hatte er auf einen Schalter gedrückt, der mit den Drähten verbunden gewesen war, und aus einem der anderen Räume war eine Melodie erklungen. Dann drückte er noch einmal, und sie war wieder verstummt. „Und?“, hatte er wissen wollen. „Woher kommt die Musik?“ Aus dem Wohnzimmer hatte Kunibert genervt geantwortet, denn was sollte das jetzt für ein Trost gewesen sein. „Bist du sicher?“, hatte sein Großvater gefragt und noch einmal den Schalter gedrückt. Vielleicht auch aus dem Schlafzimmer, wäre ihm aber auch egal, hatte Kunibert gemault, und dass ihn dieser Hass-Effekt sowieso nicht interessiere. Haas-Effekt, hatte ihn sein Großvater verbessert und dann tatsächlich die Beweisführung angetreten, dass es den Weihnachtsmann doch geben würde. Er brauche sich im Dezember nur einmal umzuschauen, hatte er gesagt. “Der Weihnachtsmann, Kunibert, dieser liebe Weihnachtsmann ist eben kein lebendiger Mensch wie du und ich, sondern eine schöne Melodie, die Eltern ihren Kindern Jahr für Jahr vorspielen.”
Dann hatte sein Großvater noch einen alten Briefumschlag hervorgekramt, den er ihm in seiner ungehemmten Begeisterung noch öfter zeigen sollte. Der durchgestrichene Name einer Pension in einem fernen Land hatte draufgestanden, und als Adresse der Name von Kuniberts Großmutter. „Das war der letzte Umschlag, den ich auf der Reise noch hatte, und der Brief war nicht einmal ausreichend frankiert gewesen, aber ich musste ihn einfach losschicken. Und wer weiß, was passiert wäre, wenn deine Oma ihn nicht bekommen hätte.“ Nie würde Kunibert das Glänzen in den Augen seines Großvaters vergessen. „Aber zum Glück hat irgendjemand noch eine Marke drauf geklebt, und der Brief ist tatsächlich bei ihr angekommen.“
Alle Briefe kommen an
In diesem Moment hatte Kunibert versprochen, Briefträger zu werden, denn alle Briefe sollten ankommen – auch die an den Weihnachtsmann. „Sie tun es“, hatte sein Großvater daraufhin geantwortet. „Manchmal brauchen sie nur etwas länger.“ Und viel wichtiger als jede Richtung zu kennen, die Gott sei Dank alle Schallwellen nehmen würden, sei es, sich der Gewissheit erfreuen zu können, dass es ihren Ursprung gäbe. Vom irritierenden Haas-Effekt solle sich Kunibert also nicht verwirren lassen und sich lieber über die Zuneigung seiner Eltern freuen. Dann hatte er gelächelt und noch einmal auf den Schalter gedrückt.
Kunibert, sagte sich Kunibert da, Kunibert, das ist doch am Ende sowieso immer nur eine Glaubensfrage, aber eine schöne Melodie ist es auf jeden Fall. Wie war er noch einmal darauf gekommen, fragte er sich. Ach, richtig, er hielt die Zeitung in der Hand. „Haas-Effekt“, titelte der Sportteil zum sensationellen Comeback des alternden Tennisstars. Da nahm Kunibert einen Schluck Tee und aß noch etwas von seinem Butterbrot. Dann las er den Artikel über Tommy Haas zu Ende.