In einer Zeit, in der Ingeborg ein moderner Name war und in einer Stadt, in der eine Mauer ein Land in zwei ungleiche Hälften teilte, hatte Esther Cramer an jedem Morgen, wenn sie die staubigen Stoffgardinen beiseite geschoben hatte, mit einem eigenartigen Gefühl Kenntnis davon genommen, dass sie aus dem Plattenbau von Gegenüber beobachtet wurde. Jeden Morgen hatte er dort am Fenster gesessen, die großen, runden Gläser auf seine Nase geschoben, seine Hände auf der Schreibmaschine abgelegt. Nie hatte er auf dem Gerät geschrieben, zumindest hatte sie es nie gesehen, denn immer wenn sie den Blick auf sich und in ihre vier Schlafzimmerwände freigegeben hatte, hatte er für diesen Moment nur dagesessen, auf- und sie angeschaut, manchmal seine Brille abgenommen, und spätestens dann war Esther jedes Mal vom Fenster verschwunden.
Peerewju.de-172-Beobachtungsgabe
Seit ein paar Tagen nun aber, hatte sie ihn nicht mehr gesehen und Esther wunderte sich, hatte sie ihn doch bis dahin voranging mit Mistrauen bedacht, warum sie der Gedanke, wo er denn wohl stecken würde, seitdem begleitete. Er hatte sie von dem Moment an in Besitz genommen, als sie die Gardinen geöffnet und den leeren Stuhl zum ersten Mal erblickte hatte, und seitdem schon dann, wenn sie morgens nur aufgestanden war und darüber spekuliert hatte, ob er wohl heute wieder an seinem Platz sitzen würde. Der Gedanke war inzwischen täglich mit ihr aus dem Haus gegangen, war bei ihr gewesen, wenn sie mit den Kindern gespielt und sich später wieder auf den Heimweg gemacht hatte. Komischer Typ, hatte sie immer nur gedacht. Mehr nicht.
Selbst als sie an diesem Abend in ihre Straße gebogen kam, an der bereits geschlossenen Bäckerei vorbeiging und gerade die Hausfront der Apotheke passierte, war das exakt alles, was ihr zu diesem Mann einfiel, als jemand aus der Tür gestolpert kam, den ersten Fuß auf den Bürgersteig setzte, in Unkenntnis davon, wer ihn gerade benutzte, und niemand der beiden oder jemand anders sonst den Zusammenstoß noch hätte verhindern können.
„Passen Sie doch auf!“, fauchte Esther in ihrer gewohnt forschen Art.
„Ent… Entschuldigung“, stotterte der Verursacher des Aufeinander-, oder besser Ineinandertreffens. Es war ein Mann, in einen dicken Mantel und einen langen Schal gehüllt, der nun schuldbewusst hinter seinen Brillengläsern seinen Blick gen Boden senkte. „Ich hoffe, es ist Ihnen nichts passiert“, sagte er und griff zaghaft nach ihrem Arm. Esther wich sofort zurück.
„Sie sind doch…“, plumpste es aus Ihrem Mund, bevor sie ihr Erstaunen und den Austritt dieser drei Wörter hatte kontrollieren können und noch nicht zu vermuten mochte, was für einen Dialog sie damit in Gang bringen würde.
„Ich bin…“
„Der von Gegenüber mit der nicht funktionierenden Schreibmaschine…“
„Äh… Sie wissen wer ich bin?“
„Es gibt nicht viele Menschen, die jeden Morgen am Fenster sitzen mit einer nicht funktionierenden Schreibmaschine auf dem Schoß.“
„Sie steht vor mir auf dem Tisch, nicht auf dem Schoß.“
„Jaja…“
„Und kaputt ist sie im Übrigen auch nicht.“
„So ist das mit eurer Sorte. Ihr nehmt das alles viel zu genau.“
„Das sollten wir auch tun. Nur fallen mir die passenden Worte nicht immer gleich ein. So wie jetzt gerade… sie sind aber wichtig, um richtig verstanden zu werden.“
„Ach, meinen Sie das interessiert die Leute, die Ihre Berichte lesen?“
„Welche Berichte?“
„Die sie schreiben, die Berichte.“
„Berichte würde ich es nicht nennen.“
„Wie denn sonst?“
„Es sind Geschichten.“
„Geschichten? Ich frage mich gerade, warum ich mir überhaupt noch Ihrer Gegenwart gefallen lasse. Mit Leuten wie Ihnen möchte ich nichts zu tun haben.“
„Leuten wie mir?“
„Ich meine, warum gehen Sie nicht einfach an statt mich hier noch in eine Ihrer Aushörungen zu verwickeln. Sie könnten doch einfach gehen. Lassen Sie sich von mir bloß nicht aufhalten.“
„Ich wünschte… Ich wünschte, Sie würden es tun.“
„Hah! Das wäre ja noch schöner.“
„Hören Sie, ich weiß, dass hier ganz komische Dinge vor sich gehen. Ich mache mir genauso meine Gedanken, um das alles, auch um sie… also ich meine, was ist, wenn sie plötzlich… ich mag gar nicht daran denken.“
„Was soll das? Es liegt doch in Ihren Händen.“
„So würde ich es auch nicht sagen. Ich schreibe nur auf, mehr nicht. Und ich weiß nur, dass hier draußen etwas nicht stimmt. Deshalb gehe ich auch kaum noch vor die Tür.“
„Und was hat das dann mit mir zu tun?“
„Mit Ihnen… das ist nicht so einfach, aber ehrlich gesagt… ehrlich gesagt, wäre es das Schlimmste… es wäre das Schlimmste, wenn Sie eines Morgens nicht mehr die Wolken beiseite schieben und dort im Fenster stehen würden.“
„Was soll das denn heißen?“
„Glauben Sie mir, ich kann sie schützen. Ich habe einen Instinkt für so etwas.“
„Das könnte Ihnen so passen. Wenn der Instinkt darin besteht, den ganzen Tag am Fenster zu sitzen, weiß ich doch, worauf das hinausläuft. Ich lasse mir meinen Mund und mein Leben nicht verbieten. Von niemandem und vor allem nicht von Ihrer Sorte.“
„Ich versuche Sie nur zu warnen. Sie sollten wirklich auf sich aufpassen.“
„Danke. Sie übrigens auch! Und wo wir gerade dabei sind, wo waren…“
„Wo waren…?“
„Ich meine…“
„Sie meinen…“
„Entschuldigung, das wollte ich gar nicht fragen…“
„Ich bin krank, seit einigen Tagen, kam nicht mehr aus dem Bett.“
„Jetzt kommen Sie mir auch noch mit Mitleid.“
„Tue ich nicht.“
„Verstehe…“
„Nein, sie glauben nur zu verstehen, aber sie verstehen nicht. Zumindest nicht alles. Wissen Sie, normalerweise behalte ich die Dinge lieber für mich, man weiß nämlich nie, wer alles mithört. Nur hier geht etwas ganz anderes, etwas Außergewöhnliches vor sich, das merke ich…“
„In Ihrem Kopf vielleicht…“
„Es ist echt, verstehen Sie? Ich denke mir das nicht aus. Und es ist doch sicher kein Zufall, dass wir uns hier begegnen.“
„Ja, da bin ich sicher. Sie passen schon ganz genau auf, was passiert…“
„Das stimmt, ich teile mich nicht vielen Menschen mit. Menschen… sie sind die Ausgeburt der Hölle. Sehen Sie nicht, was sie sich einander für ein Leid zufügen?“
„Sie sind doch mit Ihren Berichten nicht unschuldig daran.“
„Es sind keine Berichte. Hören Sie, normalerweise komme ich niemanden zu Nahe, bleibe selbst in meinen Gedanken allein. Nur bei Ihnen…“
„Bei mir…?“
„Wissen Sie, ich gehöre zu der Sorte von Autoren, die den Figuren bessere Sätze gibt, als sie in echt selber sagen können.“
„Autor? Sie sind Autor? Habe ich von Ihnen gehört? Wie heißen Sie denn?“
„Strehlke, Detlev Strehlke.“
„Das ist doch wieder so ein Codename. Und in echt?“
„Strehlke, Detlev Strehlke.“
„Nie gehört…“
„Zugegeben, der Erfolg benötigt noch etwas Zeit.“
„Wundert mich aus Ihrem Munde. Das System läuft doch gut. So denken Sie doch alle.“
„Ich verstehe nicht.“
„Ich auch nicht. Nur Sie scheinen ein Auge auf mich geworfen zu haben…“
„Äh… ich versuche direkten Kontakt zu meiden. Ich beobachte besser aus der Ferne.“
„Das ist offensichtlich, macht sie aber nicht vertrauenswürdiger. Und an Ihrer Stelle würde ich auch niemandem mehr trauen. Jeder kann doch dazu gehören. Wer weiß, ob sie nicht auch beobachtet werden.“
„Das sagte ich doch gerade. Ich vertraue niemandem. Nur bei Ihnen ist es anders. Sie scheinen zu den Guten zu gehören.“
„Woher wollen Sie das wissen? Etwa durch Ihre Beobachtungen?“
„Beobachtungen… das ist nun etwas viel gesagt, aber sie haben… sie haben recht… eine gewisse Beobachtungsgabe sollte einem Autor nicht abgehen. Nur welcher Mann sollte sich bei Ihrem morgendlichen Anblick nicht angesprochen fühlen. Das hat nun wenig mit einer ausgeprägten Beobachtungsgabe zu tun, eher dass sie abends oder nachts manchmal noch zwischen dem Vorhang hindurchluken oder hin und wieder das Licht anmachen. Und umso mehr liegt es mir am Herzen, dass Sie bloß niemandem blind vertrauen – außer mir vielleicht.“
„Ihnen? Genau das meine ich, und genau deshalb werde ich es nicht tun.“
„Ein kleiner Spaß meinerseits. Entschuldigen Sie. Wissen Sie, was das Problem ist, wenn man sich das Bild eines Menschen ausgemalt und ihn eine Schublade gesteckt hat?“
„Etwa, dass er nicht wieder herauskommt?“
„Das ist nur die eine Seite, denn auf der anderen ist es unheimlich leicht das Bild, das man von einem Menschen hat, aufrechtzuerhalten…“
„… und jetzt kommt ein aber?“
„Ja, denn es ungemein schwieriger und bereitet unheimliche Mühe und eine noch unmöglichere Anstrengung, das gemalte Bild zu füttern, wenn dieser Mensch einem keine Nahrung mehr dafür gibt.“
„Aha. Und was soll mir das nun sagen?“
„Die Frage, die ich mir stelle, wenn ein Typ meiner Sorte ein Auge auf Sie geworfen hat, ist folgende: Warum lassen Sie den Vorhang nicht einfach zu? Ich würde Sie nicht sehen, sie würden mich nicht sehen.“
„Weil… weil…. es ist ganz einfach: Weil… weil ich nichts zu verbergen habe.“
„Sehen Sie, ich auch nicht. Ich sage es nur nicht jedem.“
„…“
„Außer Ihnen, und das möchte ich Ihnen sagen: Es hat mich gefreut und ich würde mich freuen, Sie wiederzusehen.“
„Das hätten Sie wohl gerne, dass sie mich weiter aushorchen können. Sie kriegen mich nicht, darauf können Sie wetten. Und das können Sie auch gerne in Ihren Bericht schreiben.“
„Es ist eine Geschichte, nur eine Geschichte. Und eine Figur darin sagt: Unsere Mitmenschen sind das Wertvollste, das wir haben. Wir sollten sie achten und Ihnen und mit Ihnen das Leben so angenehm wie möglich gestalten.“
„Das klingt eher nach der Bibel. Hat das Jesus gesagt?“
„Strehlke, Detlev Strehlke. Guten Abend.“
(Hausaufgabe September – Schreibhain)
Celina meint
Sehr kreativ 🙂
Mirjana meint
Schön geschrieben und gelesen 🙂
janmikael meint
… und gracias 😉