»Einen schönen Abend«, sagte Janna und rang sich ein Lächeln ab. Draußen flackerte bereits die Straßenbeleuchtung auf, die alte Dame nahm ihre Einkäufe vom Kassenband und nickte. Sie dürfte die letzte Kundin gewesen sein, dachte Janna. Vorne schob Toby die Einkaufswagen zusammen und als die alte Dame sich den Schiebetüren näherte, schoben sie sich hinter ihr heute zum letzten Mal zu. Toby drehte den Schlüssel im Schloss des Haupteingangs und nickte Janna zu.
Janna nahm die Kasse aus der Halterung und ging Richtung zu den Umkleideräumen. Wieder hatte er nicht eingekauft. Was war schief gelaufen? Sollte sie ihm jetzt schreiben oder doch etwa seine Nummer endgültig aus dem Handy löschen? Allzu lange würde sie den Job hier nicht mehr machen, ehe sie ihr Studium aufnehmen würde.
Lustlos stapfte sie in den Keller, verstaute die Kasse in einem der Schränke und schnappte sich ihre Tasche. Warum hatte sie Tobi davon erzählt? Natürlich, es war viel gewesen, auch zu viel. Wie hatte sie damit umgehen sollen, fragte sie sich. Nur jetzt ging es ihr genauso – nur umgekehrt. Er kam nicht mehr.
Toby hatte gemeint, er wäre ihm gleich verdächtig erschienen, wie er fast jeden Morgen durch den Supermarkt geschlichen war. Sicher hatte Tobi ihm gesagt, dass sie das stören würde oder er hatte sich deutlicher ausgedrückt und ihm gesagt, dass er abhauen sollte. Der Handschlag zwischen beiden hatte zumindest freundschaftlich ausgesehen. Offenbar hatte er verstanden oder doch nicht und vielleicht viel mehr.
Janna strich sich eine braune Haarsträhne aus ihren Gesicht und eilte die Katakomben entlang zum Hinterausgang. Keine Zettel mehr mit Liebesbekundungen, keine Blicke mit geheimen Botschaften. Sie schaute auf ihr Handy. „Wenn du schreiben magst…“, hatte er begonnen, und ihr die Rose gegeben. „Dann melde ich mich“, hatte sie vollendet, und es nicht getan. Er würde zurückgekommen, war sie sicher gewesen.
„Zuletzt online heute um 20:22.“
„Janna?“, hörte sie eine hallende Stimme hinter sich im Gang. Schnell ließ sie ihr Handy in der Tasche verschwinden.
„Ja?“”, sagte sie und drehte sich um.
„Ich soll dir das geben.“ Tobi schob seinen massigen Körper auf sie zu und reichte ihr einen Briefumschlag. „Von ihm.“
„Aber du hast doch…“
„Es ist ok.“
Janna verzog keine Miene, ihr Herz dagegen schlug ihr bis zum Hals.
„Erst wollte ich es dir nicht geben, aber ich dachte…“
„Danke.“
Janna umarmte ihren Bruder und schlug die Tür nach draußen auf. Frische Luft, der Scheinwerfer beleuchtet den Hinterhof und schien ihr direkt ins Gesicht. Nach Hause, dachte sie, den Brief aufreißen. Oder ihn besser gar nicht lesen. Woher sollte er wissen, dass Tobi ihn nicht zerrissen hatte? Sie durchquerte das Tor zur Straße, sah aus dem Augenwinkel Licht im zweiten Stock des Wohnhauses gegenüber. Eine seltsame Ruhe überkam sie. Sie verlangsamte ihre Schritte, streckte ihren Rücken durch. Nur nicht nach oben schauen, dachte sie.
Um die Ecke, und um die Nächste, Janna ging schneller, die Haustür stand offen, sie eilte die Treppen nach oben, stieß die Wohnungstür auf. Stimmengewirr empfing sie, Robbsen kam ihr entgegengestürzt und sprang an ihr hoch. „Hi Mama“, rief sie und reckte kurz ihren Hals ins Wohnzimmer. Was sie dazu sagen würde? Vielleicht hatte Tobi es ihr schon erzählt. Ihre Mutter würde sicher meinen, dass es niemals klappen würde und sie sich jemand anders suchen sollte. Schließlich hatte sie selbst die Erfahrung gemacht. Jetzt schaute sie abends meistens fern.
Eine Portraitfoto von Lili Allen grinste Janna von der Wand an, ehe sie sich unter ihrer Bettdecke vergrub. Sie spürte ihr Herz rasen und eine dunkle Angst, die in ihr hochstieg, über ihre Haut kroch. Wie dumpfe Nadelstiche. Robbsen kratzte an der Tür, jammerte, verschwand. Vertrauen, die Kontrolle abgeben. Sie kannte ihn so wenig, und sie waren so weit auseinander, und doch ähnlich. Alles gut, ihre Worte, stotternd die seinen. Die Rose inzwischen verwelkt, das „love you sehr“ stand auf der Karte.
„Zuletzt online heute um 21:33 Uhr.“
Sich zu zeigen, hieß anzunehmen – seit dem Tag, als er ihr das Schoko-Törtchen und sie ihm ihre Nummer gegeben hatte. Nur der Trick, mit dem sie ihn online sehen konnte, er aber nicht sie, schützte sie davor, sich jetzt zu verraten. „Habe noch nicht oft jemandem eine Schokolade geschenkt – eigentlich nie.“ Was er wohl diesmal geschrieben hatte? Alles albern, alles Kindergarten, Mareike hatte recht. Und er war dreißig. Ihr Blick fiel zur Tür. Rausgehen, aufgehen, öffnen. Schmeiß es nicht weg, dachte Janna. Omas Worte seitdem sie denken konnte. „Heute kämpft niemand mehr.“ Er kämpfte, sie auch. Er sah eher aus wie Mitte zwanzig – in echt wie auf dem Profilbild.
„Zuletzt online heute um 21:44 Uhr.“
Ein warmes, wohliges Gefühl durchströmte sie. „Ich kann nicht einfach deine Nummer löschen“, hatte er geschrieben und die Uhrzeit war nun alles, was ihnen geblieben war. Tausend Küsse, ihr Code, niemand der ihn verstand, selbst wenn sie jemandem davon erzählte. Er war immer noch da. Was konnte besser sein? Sie betrachte den weißen Umschlag in ihren Händen, so unbefleckt wie der Schnee im Winter, der sich über alles legte, – über alles, was gut und schlecht war, über jede Vergangenheit und die Gegenwart strahlend weiß erscheinen ließ. Das letzte Mal hatte sie ihn vor ein paar Wochen gesehen. Er war gerade vom Sport gekommen. Er hatte im letzten Moment die Hand gehoben, sie war weitergefahren, hatte sich umgeschaut, die Straße und das Haus hatten ihn bereits verschluckt gehabt.
„Zuletzt online heute um 21.55 Uhr.“
Vorsichtig öffnete sie den Umschlag und las:
„Liebe Janna,
wo warst du am 11. September? Kannst Du es sagen? Weißt Du, welches Jahr ich meine? Hat das Ereignis eine Bedeutung für Dich und wenn ja, ist sie ähnlich wie die meine oder sind wir darin soweit auseinander, wie wir es möglicherweise tatsächlich sind?
Es ist ein Gefühl, das ich habe, wenn ich an Dich denke oder wenn Du mir zeigst, dass Du es tust. Welche Rolle spielt es da, wie Du über diesen Angriff denkst? Nur weil es für mich normal ist, ihm seinerzeit eine Bedeutung beigemessen zu haben, die nun nicht größer sein kann als das, wie Du darüber denken wirst. Die Geschichte ist geschrieben und schreiben wir nicht auch eine?
Ist es Ironie, dass ich in dem Alter war wie Du es bist und schon während ich diese Zeile schreibe, klingt es nach Überheblichkeit, die ich Dir gegenüber nicht empfinde, nicht empfinden möchte. Denn nur weil ich vor dem 11. September mehr Zeit hatte, ihn zu verstehen, bin ich deswegen jetzt nicht unbedingt älter.
Wo warst du am 11. September und spielt es eine Rolle? Habe ich in den letzten Jahren etwas dazugelernt, was nicht schon dazu geschrieben stand? Weiß ich also mehr darüber als Du? Über den 11. September, über das Leben? Nicht mehr, als ihn mit Deinen Augen verstehen zu wollen, denn was ist eine Liebesgeschichte wert, wenn sie niemand lesen wird, der Mensch nicht liest, für den sie bestimmt ist, ist diese wert, wenn wir sie nicht leben?
Jon-Michael.”
Jon-Michael klappte das Buch zu. Sollte er diese Geschichte chreiben, den anderen zeigen, und war der Brief nicht dämlich und schlecht formuliert? Das ist es halt, was einem so spontan einfällt, wenn man eine Aufgabe zum 11. September bekommt, und schließlich stand er am Anfang und war ein Schüler auf der Suche nach dem goldenen Tintenkiel.
Kein Interesse hatte sie gesagt. Da würden auch keine Kuchen und Gedichte helfen. Er würde also noch mal anfangen, den Text noch einmal lesen, den Brief noch einmal schreiben. Etwas Zeit würde die Geschichte brauchen, andererseits wer wusste das zu wissen. Schließlich war auch der 11. September nah gewesen, und nun fern und für immer da.
“Zuletzt online heute um 22.00 Uhr”
Er war jetzt zu Hause und schaute auf sein Handy. Was sollte er tun? Er hatte ihrem Bruder sein Wort gegeben.
Friedel meint
Super!
janmikael meint
merci.