…oder auch nicht. Irgendwie muss sich die Abreise dorthin verhindern lassen, denkt Kunibert. Warum konnte ihm Opa Gustav nicht eine Reise in den Schwarzwald schenken oder nach Rügen. Aber Kanada? Schon der Anruf vom Reise-Guide, dass er sich für ein App-Spiel registrieren soll, erscheint ihm mehr als dubios. Schon kitzelt Kuniberts Schnurrbart als Zeichen verdächtiger Vorkommnisse.
Hörprobe Kapitel 1
Sprecher: Georg Burmeier
Kunibert Eder löst keinen Fall auf jeden Fall:
Ein Möchtegernermittler in einem Möchtegernkrimi.
Leseprobe Kunibert Eder Teil 2
Auf der Spur von Mr. X
Am Tage des Aufbruchs war es ein Kitzeln in der Nase, das Kunibert Eder aus seinem eigens zum Verschlafen abgehaltenen Mittagsschlaf weckte.
»Haaatschi!« Direkt war Kunibert munter. Die feinen Sensorhärchen seines Schnurrbarts hatten Meldung gemacht und Kunibert bis in die Nase gekitzelt. »Haaatschi!«
Hätte ein Kunibert Eder bereits an dieser Stelle das abgekartete Spiel bemerken können? Oder hatte ein Kunibert Eder sogar nur deshalb versucht, seine Abreise ins ferne Kanada zu verhindern?
Begonnen hatte sein Akt versuchter Selbstsabotage schon damit, dass er sich wochenlang um seinen Urlaubsantrag herumgedrückt hatte. Seitdem ihm sein Opa väterlicherseits, Opa Gustav, eine gewonnene Kanada-Reise geschenkt hatte, war Kunibert mit dem Anliegen der Arbeitsbefreiung um Manni, den Chef des Supermarkts, herumgeschlichen, wie ein TÜV-Prüfer um die Karosserie eines zu bewertenden Fahrzeugs. Es war letztlich Opa Gustav selbst, der eines Tages in den Supermarkt gekommen war und Kunibert in Anwesenheit von Manni gefragt hatte, ob denn mit dem Urlaubsantrag alles klappen würde. Manni hatte fragend geschaut, und von da an war eigentlich klar gewesen: Kunibert musste reisen. Er muste nach Kanada. Er musste Opa Gustav als Gewinner der Reise würdig vertreten.
Kunibert richtete sich in seinem Bett auf. Dem immer noch vorherrschenden Tageslicht nach zu urteilen, war sein Plan zu verschlafen, nicht aufgegangen.
Der Zubringer-Zug mit Zugbindung und Super-Sparpreis und daher ohne vorgesehene Rückerstattung bei möglicher Stornierung und bereits getätigter Sitzplatzreservierung im Ruhebereich ohne Tisch auf Wunsch in Fahrtrichtung in einem Großabteil und mit Platz am Gang (wenn verfügbar) wartete weiter darauf, ihn zum Flughafenhotel zu bringen.
Am liebsten wollte sich Kunibert die Bettdecke über den Kopf ziehen und die nächsten Wochen liegenbleiben. Er hatte einen Fall gelöst, dachte er, den niemand für einen Fall gehalten hatte, und draußen lief irgendwo Annabelle Lerche herum. Diese wunderbare Frau, die gerade gar nicht mehr so wunderbar erschien. Da durfte man schon mal länger liegenbleiben. Annabelle, dachte Kunibert. Ihr würde er zeigen, was für ein Abenteurer in ihm steckte.
Kunibert sprang aus dem Bett und trat am Fußende vor die nicht durchgelegene Hälfte seiner Matratze. Shirts, zwei Jeans und Unterwäsche hatte er seit Urlaubsbeginn vor ein paar Tagen zusammengetragen und auf dem Bett abgelegt. Dazu die Reiseunterlagen in einer Plastikhülle und den blauen Kulturbeutel. Kunibert zwirbelte sich mit Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand an seinem Schnurrbart.
Der Koffer fehlte.
Der Koffer, dachte Kunibert. Er hatte keinen!
Aus der Ecke des Zimmers nahm er stattdessen seine schwarze Sporttasche – die vom MTV, dem Männerturnverein von Hennigsen. Er packte die ersten Shirts und Pullover ein und brach ab. Die Tasche war eindeutig zu klein. Selbst wenn er die Reiseunterlagen und die Kulturtasche im Rucksack verstaute, würde es nicht passen.
Das war’s, dachte Kunibert. So konnte er dem Super-Sparpreis-Zug und der Reise entkommen – außer vielleicht wenn im Keller ein alter Koffer herumstand. Sicher waren auch seine Großeltern mütterlicherseits, der strenge Opa Theodor und die fleißige Oma Hermine, die früher das Haus bewohnt hatten, einmal auf Reisen gegangen.
Kunibert stiefelte in seinem Pyjama den Hausflur hinunter. Im Keller räumte er das inzwischen ausgepackte Bauchweg-Universal-Trainingsgerät zur Seite und lugte in die Regale. Hinter verklebten Farbeimern stieß Kunibert auf einen Karton mit vergilbten Mickey-Maus-Zeitschriften und einen Stapel alter Gesellschaftsspiele. Scotland Yard lag ganz oben. Ein Brettspiel, bei dem ein Team von Ermittlern den Aufenthaltsort eines anderen Spielers, Mister X, herausfinden musste. Kunibert hatte es geliebt, als Kind mit Opa Gustav das Spiel zu spielen. Darauf hatte sonst aus der Familie nach einiger Zeit niemand mehr Lust gehabt.
»Happi, happiii!«, erklang die bezirzende Stimme des rüstigen Froilein Schneider, der Untermieterin aus dem Obergeschoss, von draußen aus dem Garten. »Happi, happiii, Meister! Wo steckt denn der Meister? Happi, happiii! Lecker, lecker!«
Kunibert blickte zum Kellerfenster, wo eine Topfblume ihr einsames Dasein fristete. Kunibert schob den Karton des Bauchweg-Trainers vor das Fenster und stieg auf die Seitenteile. Etwas wackelig war das schon, aber diesmal würde es halten, war er sich sicher. Schließlich hatte er abgenommen. Kunibert stützte sich auf der Fensterbank ab und linste in den Garten.
Das Froilein Schneider schlich gebückt durch das Gras und spähte in Gebüsch und Bäume. Sie hatte sich der bevorstehenden Aufgabe, in Kuniberts Abwesenheit den Kater zu versorgen, offenbar direkt angenommen. Nur wie so oft gedachte der Kater, der von Zeit zu Zeit auf den Namen Meister zu hören in der Lage war, vor allem dann zu fressen, wenn er es für richtig hielt. Nicht, wenn jemand etwas im Angebot hatte, und schon gar nicht, wenn ihm jemand mit verstellter Babystimme das Fressen schmackhaft zu machen versuchte.
Genauso erging es ja Kunibert mit dieser Reise. Hätte er nicht selbst eine aussuchen können? Dann wäre er nach Rügen gefahren oder in den Schwarzwald. Jetzt hieß es Kanada!
Haha, dachte Kunibert im nächsten Moment, als wieder der Schatten vom Froilein Schneider am Kellerfenster vorbeihuschte.
»Happi, happiii! Lecker, lecker!«
Haha, dachte Kunibert noch einmal und lachte in seinen Ellenbogen. Dabei verlagerte er das Gewicht von der Fensterbank auf die Seitenteile des Kartons.
Jetzt würde jemand anders so viel Spaß mit dem Meister haben, wie er es sonst hatte. Hahaha, dachte Kunibert, und »Haha«, entfuhr es ihm noch einmal.
Da gab der Karton unter ihm nach. Kunibert versuchte, sich an dem Schrank mit dem Gartenwerkzeug festzuhalten, wobei er nur die Tür erwischte. Sie öffnete sich und Kunibert krachte rücklings gegen den Bauchweg-Trainer und landete auf dem Boden. Aus dem Schrank purzelten Schrauben heraus und Kunibert konnte im Liegen gerade noch die Gartenharke fangen, die in seine Richtung stürzte.
»Herr Eder?« Die Stimme des Froilein Schneider war von der Höhe des Kellerfensters sofort zur Stelle. »Sind Sie das?«
Auf dem Rücken liegend, mit Blick zum Fenster, erschien es Kunibert, als spräche wieder diese Topfblume von der Fensterbank zu ihm. »Nein, nein«, erwiderte er. »Es ist alles in Ordnung.«
»Das sind doch Sie, Herr Eder? Suchen Sie etwas da unten?«
»Nein, nein. Ich habe mir nichts getan«, gab Kunibert zurück. »Danke der Nachfrage.«
»Etwa die Postkarten?«
Der Blume war einfach nicht beizukommen.
»Welche Postkarten?«, fragte Kunibert.
»Die Postkarten, die Sie in der Nacht entdeckt haben, als Sie dort in den Keller geschlichen sind. Wissen Sie das nicht mehr?«
»Doch, das weiß ich«, sagte Kunibert, aber lieber wollte er nicht mehr daran denken, wie er seinerzeit nach Draht und Brechstange gesucht hatte, um sich Zutritt zum Vereinsheim des SV Brauberg zu verschaffen. Beweise für den Betrug in der Kreisklasse hatte er finden wollen. Dabei hatte er hinter dem Schrank mit dem Gartenwerkzeug eine Art Geheimfach entdeckt, in dem die Postkarten gelegen hatten.
»Die Postkarten haben Sie mir in die Hand gedrückt.« Die Blume, die die Stimme des Froilein Schneider angenommen hatte, wurde schon wieder redselig. »Weil ich zufällig aufgetaucht bin, als Sie da rumhantiert haben.«
»Ja, ja. Das weiß ich. Aber es geht nur darum, dass ich diesen blöden Flug verpasse.« Kunibert stutzte.
Auch die Blume verstummte.
Hoffentlich würde sie es für sich behalten, dachte Kunibert, oder es nicht verstehen. Es war ja nur so gemeint gewesen, meinte er, dass er langsam einen Koffer brauchte, um nicht am Ende den Flug zu verpassen. Von Verpassenwollen konnte nicht die Rede sein.
Kunibert rappelte sich hoch und dabei entdeckte er hinter einigen gestapelten Eimern einen rotkarierten Stoff. Einen Koffer!
Kunibert fasste ihn beim Griff und wuchtete ihn aus dem untersten Regalfach. Es klirrte aus dem Inneren. Und schwer war der! Als Kunibert den Koffer öffnete, sprang ihm der Geruch von Farbe entgegen. Im Koffer lagen alte Marmeladengläser, aus denen Flüssigkeit ausgelaufen und nun auf Gläsern und im Innenstoff eingetrocknet war.
Da war Kunibert direkt erleichtert. Mit diesem Koffer konnte er unmöglich fliegen. Opa Gustav würde kurzfristig einen Vertreter nach Kanada finden müssen.
»Nach Kanada!«, rief Kunibert aus. Er in Kanada? Da musste er selbst lachen. Konnte Opa Gustav nicht um die Ecke kommen und alles als einen Streich auflösen? So wie früher, wenn sie miteinander gespielt und sich gegenseitig auf den Arm genommen hatten.
»Haaatschi!« Kunibert nieste in seinen Ellenbogen. Zu viel Staub, dachte er und trat den Rückzug aus dem Keller an.
Das mit dem Koffer habe er bei der Planung übersehen, legte er sich bereits die Worte für Opa Gustav zurecht. Nur würde der sicher entgegnen, dass Kunibert ihn doch habe anrufen können. Es hätte sich doch ein Koffer in der Familie finden lassen.
Kunibert seufzte. Er sollte dieses Gespräch am besten direkt hinter sich bringen. Kunibert schlurfte ins Wohnzimmer und kramte unter einigen kostenlosen Fernsehzeitschriften sein altes Smartphone hervor. Vom Display blinkten vier Anrufe in Abwesenheit. Es war die immer selbe 0800er-Nummer.
Kurz bei Opa Gustav anklingeln lassen, dachte er. Dann habe er es wenigstens versucht.
Es klopfte an der Wohnungstür.
»Herr Eder?« Es war wieder das Froilein Schneider, und sie ließ sich nicht einmal bitten hereinzukommen. Schon im nächsten Moment drehte sich ein Schlüssel im Schloss.
Kunibert ging in den Flur, das Froilein Schneider kam ihm entgegen.
»Funktioniert.« Sie wedelte mit dem Schlüssel in der Hand. »Mit dem Meister war nicht einfach. Ich hoffe, Ihre Blumen sind pflegeleichter.«
»Normal schon. Nur die im Keller redet recht viel.«
Das Froilein Schneider nickte. »Dafür kommt sie mit wenig Wasser und Sonne aus.« Sie lächelte. »Eigentlich wollte ich nur klären, ob es heute bei neunzehn Uhr bleibt?«
»Na ja«, begann Kunibert und strich sich mit Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand den Schnurrbart zusammen. »Es gibt da ein Problem.«
»Ein Problem?« Das Froilein Schneider schaute ihn fragend an. »Was denn für ein Problem?«
»Meine Tasche ist zu klein.«
»Kein Grund nervös zu werden, Herr Eder.« Die Augen vom Froilein Schneider begannen zu leuchten. »Ich habe einen Koffer. Einen neuen. Mit Rollen!«
»Oh«, sagte Kunibert. Das hatte ihm gerade noch gefehlt.
»Der Koffer ist so groß, da wäre sogar für mich drin Platz.« Das Froilein Schneider lachte auf. »Warten Sie! Ich bringe ihn runter.«
Kuniberts linker Zeigefinger zu einer erwidernden Wortmeldung schwebte noch in der Luft, als das Froilein Schneider bereits verschwunden war. Aus Kuniberts anderer Hand erklang in diesem Moment das Intro von Magnum. Dem Privatdetektiv mit dem Hawaiihemd aus einer Fernsehserie der Achtzigerjahre.
Kunibert schaute auf das Display seines alten Smartphones. Es war wieder diese lange Nummer, die er nicht kannte. 0800 vorne. Wollte ihm wieder jemand ein Probeabo für eine Fernsehzeitschrift andrehen?
Kunibert wischte den grünen Hörer zur Gesprächsannahme an den Rand des Displays.
»Eder?«, fragte er ins Telefon. Wieder kitzelte ihm der Schnurrbart.
»Guten Tag Herr Eder«, klang durch den Hörer eine freundliche Frauenstimme, die sich sogleich ein weiteres Mal fragend vergewisserte, ob sie tatsächlich mit Herrn Eder spreche.
»Am Apparat.«
»Ich rufe wegen der Abenteuerreise an, Herr Eder«, sagte die Frau, die sogleich ergänzte, dass sie sich ungemein freue, Gustav Eder, direkt am Telefon zu haben.
»Kunibert Gustav Eder«, sagte Kunibert. »Kunibert Theodor Gustav Eder, um genau zu sein.«
»Gut, Herr Eder. Ich hoffe, mit den Unterlagen hat alles geklappt.«
Kunibert nickte ins Telefon.
»Mein Name ist Justine Haber. Ich bin Reise-Guide bei Amreisen und freue mich, Sie bei dieser außergewöhnlichen Reise begleiten zu dürfen.« Sie stieß ein einstudiert klingendes Lachen aus. »Natürlich rein virtuell, aber Sie können uns jederzeit anrufen. Wir von Amreisen sind immer für Sie da. Sieben Tage die Woche, rund um die Uhr. Amreisen, das ist Ihr Experte für Reisen in Amerika.«
»Danke«, sagte Kunibert.
»Wenn ich es richtig sehe, ist für heute Abend der Zubringer-Zug zum Hotel gebucht. Ihr Flug geht morgen, richtig?«
»Das stimmt«, antwortete Kunibert.
Unterdessen öffnete sich wieder die Wohnungstür. Diesmal führte das Froilein Schneider beim Betreten einen schwarzen Koffer an der Hand. »Mit ganz vielen Fächern«, verkündete sie flüsternd und nicht ohne Stolz. »Ein ganz tolles Modell! Das hat auch der Verkäufer gesagt.«
Kunibert nickte.
»Er heißt Whompi. Nach diesem australischen Beuteltier. Wegen der vielen Fächer. Verstehen Sie? Wohin darf ich ihn bringen?«
Kunibert zeigte zum Schlafzimmer. Zum Glück hatte er immerhin schon aufgeräumt. Dieser vorbereitende Akt der tatsächlich möglich werdenden Abreise hatte seine Panik nur umso mehr verstärkt, weil er ab diesem Zeitpunkt fürchtete, am Ende wirklich fliegen zu müssen.
»Es geht nach Toronto und von dort vier Tage mit dem Zug, dem Canadian, nach Vancouver. Dort haben sie für zwei Wochen alle Möglichkeiten«, fasste Justine Haber den Reiseplan zusammen. »Ich empfehle Ihnen, die zugehörige App zu installieren. Live Adventures. Dort finden Sie Routen, Quests und Vorschläge für Übernachtungen und Aktivitäten. Alles ist auf Ihre Wünsche und Bedürfnisse abgestimmt.«
Kunibert schaute dem Froilein Schneider nach, wie sie mit dem Koffer im Schlafzimmer verschwand. Quests, klang es in seinem Kopf nach, als Justine Haber bereits fortfuhr: »Auf einer Skala von eins bis zehn, wie wichtig ist Ihnen, dass es actionreich zugehen wird?«
»Geht so«, sagte Kunibert und überlegte, ob sich hier vielleicht noch ein Ausweg eröffnen würde.
»Dann würde ich also Vier eintragen?«
»Hmm, besser Drei. Oder lieber Eins«, sagte er schnell. »Tragen Sie eine Eins ein.«
»Okay, eine Eins. Dann nehme ich an, Ihre Partylaune hält sich ebenfalls in Grenzen?«
»Richtig«, sagte Kunibert. »Eins, bitte.«
»Sie können das im Übrigen jederzeit in der App ändern. Es sind nur Vorschläge und wir von Amreisen richten uns ganz nach Ihnen.«
»Sie können direkt alles auf Eins setzen. Ich möchte mir nur alles anschauen.« Er war kaum dreißig, dachte Kunibert, klang aber wie sein Opa Gustav im hohen Alter.
»Wie Sie wünschen«, gab Justine zurück. »Ich setze in der Kategorie Ent-Spannung alles auf Eins. Sie wissen schon, das kommt von Spannung und Entspannung. Ent-Spannung. Bei Ihnen schlägt das Pendel eindeutig in Richtung ENT-spannung aus.«
Die Betonung auf der Silbe ent klang in Kuniberts Ohren wie ein Vorwurf. Aus dem Hörer war ein weiteres Mausklicken zu hören.
»Ach herrje«, murmelte Justine Haber ins Telefon. »Das ist gar nicht ausgefüllt.« Sie räusperte sich. »Entschuldigung«, sagte sie und fuhr mit ihrer professionellen Stimme fort. »Da Sie alleine reisen und ledig angegeben haben: Wie wichtig ist Ihnen das Auftreten des anderen Geschlechts?«
»Das Auftreten?«
»Wieder auf einer Skala von eins bis zehn.«
»Keine Ahnung«, sagte Kunibert. »Ist es nicht immer fifty- fifty bei so Reisen?«
»Also fünf?«
»Wenn fünf nur die Hälfte von fifty-fifty ist, wäre das ein Viertel, oder?«
»Das können Sie so sehen, Herr Eder.«
»Eigentlich will ich mir nur alles anschauen.« Kunibert spürte schon wieder dieses Kitzeln in seiner Nase. »Am besten aus der Ferne.«
»Das heißt dann zwei?«, fragte Justine Haber. »Oder auch eins?«
Kunibert überlegte. Was wäre, wenn er am Ende doch fliegen müsste und auch hier eine Eins angegeben hatte? Annabelle, ging es ihm durch den Kopf. Er wollte sie am liebsten wiedersehen, doch er wusste, dass es auch an der Zeit war, sie zu vergessen.
»Haaatschi!«, rief er da in den Hörer. Das war dann doch abrupt gekommen.
»Wie bitte?«, fragte Justine Haber.
»Zehn«, sagte Kunibert. »Zehn!«
»Zehn?«
»Zehn!«, rief er.
»Ja, doch.«
»Machen Sie zehn!«
»Gut, gut, ist ja gut«, gab Justine Haber zurück. »Dann zehn. Wie gesagt, wir bei Amreisen richten uns ganz nach Ihnen.«
»Zehn!« Kuniberts Blick schweifte vom Wohnzimmer in den Garten. Sein Kater spazierte gerade wieder durchs Gebüsch. Würde der Meister ihn wiedererkennen, wenn er jetzt so lange wegfliegen würde? Mehr als drei Tage am Stück hatten sie noch nie ohne einander auskommen müssen.
Aus dem Hörer hörte Kunibert weitere Mausklicks, dann die Stimme von Justine: »In ihrem Profil steht: Sie nehmen mit Ihrem Rufnamen teil. Also Kunibert. Ich frage, weil manch einer gerne ein ausgefallenes Pseudonym wählt.«
»Kunibert ist doch ausgefallen genug.« Kunibert lachte.
Das Telefon schwieg.
Aus dem Schlafzimmer kehrte das Froilein Schneider in den Flur zurück.
»Neunzehn Uhr?«, fragte sie leise. »Bei Krücke?«
Kunibert nickte und deutete in die Richtung, wo er von der Wohnung aus Krückes Imbiss auf dem Hennigser Tankstellengelände vermutete.
»Dann bis später«, flüsterte das Froilein Schneider und zog sich aus Kuniberts Wohnung zurück.
»Gut, Herr Eder, bleiben wir bei Kunibert«, sagte Justine Haber. »Mir verbleibt nur, Ihnen viel Spaß bei diesem Abenteuer zu wünschen! Kommen Sie in Ruhe an. Richtig los geht es sowieso erst nach der Abfahrt mit dem Zug. Alle Punkte, die sie auf der Reise sammeln, sind wie immer einsetzbar bei Amreisen. Amreisen, das ist der Reise-Spezialist für Reisen in Amerika.«
»Ich freue mich«, sagte Kunibert. Das hatte wenig glaubwürdig geklungen. »Sehr sogar«, schob er nach und es klang nur noch schlimmer. »Ich freue mich sehr. Man könnte sagen: Wie wahnsinnig!«
»Ihre Zufriedenheit ist uns ein Bedürfnis, Herr Eder. Ich freue mich, wenn Sie kurz in der Leitung bleiben. Wir von Amreisen führen gerade eine Zufriedenheitsbefragung durch. Unter allen Teilnehmern verlosen wir eine Kreuzfahrt.«
Kunibert nickte und ging mit der Amreisen-Wartemelodie am Ohr ins Schlafzimmer. Aus dem geöffneten Koffer lugten mehrere Jacken, Shirts und Pullis. Kunibert hob sie an. Alles hatte das Froilein Schneider in den Koffer und die Fächer bekommen. Auch die Unterhosen. Whompi, dachte Kunibert. Ein tolles Modell! Kunibert packte trotzdem zwei der drei Jacken wieder aus. Als wenn er nach Kanada fliegen würde. Haha, dachte er. Da war das letzte Wort nicht gesprochen! Kunibert zog den Reißverschluss des Koffers zu und kurz meinte er, an einem der Seitenfächer eine ausgebeulte Stelle bemerkt zu haben. Auch mit den vielen Fächern war das alles ganz schön eng. Kunibert tastete mit seiner Hand über den Gegenstand, der den Stoff ausbeulte. Was war das? Etwa ein Buch?
»Miau!«
Kunibert fuhr herum. Hinter ihm stand sein Meister.
»Miau!«
Der Kater musste durch die zwischenzeitlich geöffnete Wohnungstür gehuscht sein. »Willst du happi, happi?«, fragte Kunibert.
»Miau!«
Während Kunibert mit dem unter dem Ohr eingeklemmten Telefon den automatisch gestellten Fragen einer Computerstimme lauschte und mehrmals »sehr gut«, und »ja«, und »ja« zur Antwort gab, auch zu dem Newsletter von Amreisen mit seinen wertvollen Tipps, stellte er seinem schnurrenden Kater den gefüllten Futternapf auf die Terrasse.
Dann ging Kunibert zurück ins Haus und schnallte sich seinen Rucksack auf den Rücken. Für einen Moment bekam er sogar Lust auf diese Reise. Er in Kanada, dachte er. Wow! Er würde sich nur Mut antrinken müssen. Oder direkt soviel, dass ihn niemand mehr in ein Auto geschweige denn in einen Zug oder ein Flugzeug bekommen würde, denn im nächsten Moment war seine Vorfreude auf die Reise auch schon wieder verflogen. Kunibert brachte den Koffer in die Garage und lud ihn in den roten Kleinwagen vom Froilein Schneider. Dann verließ er mit seinem Fahrrad den Weißdornweg sieben in Richtung von Krückes Imbiss. Dabei hatte er ein Detail nicht außer Acht gelassen. Hinter sich hatte er das Garagentor wieder heruntergezogen.