Vom Fliegen in der Zeit
Hallo, ich bin Georg. Ich nehme euch mit auf eine Reise, denn ich erzähle euch vom Fliegen. Was soll der Quatsch, werdet ihr euch sicher denken. Was will uns dieser Typ schon davon erzählen? Kann doch sicher selbst nicht fliegen, aber ich sage dann: Von hier oben sieht alles anders aus, und es ist soviel leichter. Der Wind streicht mir ums Gesicht und ich gleite sanft dahin. Unten die Häuser, die Bäume, fahrende Autos auf den Straßen, eine Wunder-Miniaturlandschaft. Dort läuft auch Martin rum. Ich kenne ihn besser als jeder andere, er ist mir mittlerweile ein guter Freund geworden. Trotzdem ist er manchmal nicht so leicht zu verstehen.
Hier oben denke ich nicht so oft an ihn, obwohl er mich sonst ständig begleitet. Er ist wie so viele andere Menschen, denn oft sagt er, er habe keine Zeit. Über die Bedeutung seiner Worte ist er sich nicht ganz im Klaren, denn tatsächlich meint er, er müsse weiter. Denn was soll es sonst bedeuten, wenn jemand allen Ernstes behauptet, er habe keine Zeit, oder sogar zu wenig Zeit. Ihr werdet es wohl verstehen und gewissermaßen verstehe ich Martin und euch auch. Nur von hier oben sieht es anders aus. Sagte ich ja bereits, ihr werdet es gemerkt haben, und ich auch, wie ich es gerade wieder erwähne.
Hier oben ist nämlich alles gleich und hier ist die Zeit nicht mit Geld aufzuwiegen. Denn für jemanden der mehr und mehr Zeit hat, wird auch Geld immer unwichtiger werden. Hier denkt man nämlich umgekehrt und nicht mit dem Maß, dem sich Martin bedient, wie er mit einem Zollstock durch sein Leben rennt und jedes Ereignis in Relation zu setzen versucht. 100k, Euro, brutto, netto, Dollar, 1000 Dollar, die Woche, die Stunde. Ein Jahr, 365 Tage, 24 Stunden, 60 Minuten, 60 Sekunden, 100 Millisekunden, dann die Tausendstel. Merkt ihr bereits, wie euch die Zeit wegrennt? Müsst ihr nicht auch langsam los? Wisst ihr überhaupt, wie spät es ist?
Martin weiß das. Er weiß das immer, guckt ständig auf die Uhr, ständig auf den Kalender, muss immer weiter. Denn was er nicht weiß: Geschwindigkeit allein ist selten der schnellste Weg, noch seltener der beste. Ohne es zu merken, ist Martin der Zeit hinterher, denn im Kopf ist er ihr immer voraus. Er lernt noch, dass es nicht darum geht, sich öffnende Türen möglichst schnell zuzuknallen und für immer zu verschließen, sondern die Dinge richtig zu machen und die Möglichkeiten, die sich ihm bieten, zu erkennen und auszuschöpfen. Hier oben darf ich über ihn lachen, wenn die Wiesen und Täler unter mir hinwegziehen, Kühe und Pferde gemächlich über ihre Weiden schlendern und davon zehren. Hier oben bin ich alleine, hier hört mich keiner und hier zählt nur, was gerade ist. Denn was sollte schon besser sein in diesem Augenblick, als die Flügel auszubreiten und in die Tiefe zu schauen, hinunterzustürzen, wieder aufzusteigen und dahinzugleiten. Jeder Moment ist ein Bild, jeder Moment ist die Gegenwart.
Einfach geschehen lassen, die Zeit an- und auszuhalten. Nichts bringt sie zum Stillstand, aber nichts beschleunigt sie mehr. Bei Martin ist das anders. Er wendet jetzt ein, dass man nie vergisst, wo man herkommt und vor allem nicht wo man hinwill. Zu 96 Prozent in der Gegenwart, das ist vielleicht möglich. Ihr merkt, Martin liebt die Zahlen. Sie geben ihm Sicherheit und ein Verständnis für die Dinge, die er anders nicht begreifen kann. Wenn dem so ist, da sollte ich ihm auch sagen, dass er sich kaum in Vergangenheit und Gegenwart bewegt, sondern dann zu mindestens 96 Prozent in der Zukunft. Gierig schaut er nur in die Ferne, scheint sie ihm doch immer mehr zu versprechen als die Gegenwart zu bieten hat. Und wenn es einmal nicht so ist und ihn die Zukunft schreckt, wehrt er sich gegen das, auf das er zusteuert und versucht verzweifelt den Weg zu verlassen, den er eingeschlagen hat. Wie man es dreht und wendet, und ihr werdet es bemerkt haben, Martin geht es immer um das Morgen.
Da ich hier nun einsam meine Kreise ziehe, möchte ich das auch gar nicht verurteilen. Es liegt in der Natur des Menschen. Das Morgen, das Gestern, etwas haben zu wollen, es zu bekommen, es zu- und wieder loszulassen. Einatmen, ausatmen. Eine Entscheidung vorzubereiten, eine Wahl zu haben, einen Weg zu nehmen und ihn zu erleben. Solange zu sieben, bis uns das Gold im Schoße liegt oder es nichts mehr zu sieben gibt. Und stopp, denkt auch Martin auf einmal. Hier nämlich muss ein Fehler liegen. Oder nennen wir es Widerspruch. Zu sieben bis nichts mehr übrig ist. Dem Verständnis zur Liebe sollten wir nie einfach über einen Widerspruch hinweggehen, genauso wie wir nicht einfach über die Vergangenheit hinweggehen sollten, wenn sie uns beschäftigt und wir uns der Zukunft und Gegenwart viel schneller nähern können, wenn wir das gleiche einfach nur mit unserer Vergangenheit tun.
Ja, lasst diesen Satz erst einmal sacken. Ich denke auch noch darüber nach und schon fragen Martin und ich uns gemeinsam, wie es denn wäre… ja genau, wie es denn wäre, wenn wir des Nachts und in unserer Innenwelt unser Leben erschaffen, unsere Wege sehen und nur noch in den Tag hineinfallen und sie gehen zu brauchen? Klingt einfach, wie? Natürlich kann ich Martins Schwierigkeit verstehen, denn hier oben ist es soviel leichter, sich vom Wind und den Flügeln tragen zu lassen und sich der Gegenwart zu erfreuen. Und wenn man es genau bedenkt, schenkt uns eine Aussicht oftmals Freude, und auch die Erinnerung spendet sie uns, erleben aber werden wir sie weder im Gestern noch im Morgen. Die Freude liegt stets in der Gegenwart. Ihr wisst sicher, wie ich es meine, denn auch Morgen wird die Zukunft wieder Gegenwart sein dürfen und wir können ihr Anlass geben, sie willkommen zu heißen.
Lange will ich euch damit auch nicht mehr aufhalten, gerade bricht die Dämmerung herein und ich erreiche pünktlich den Zielpunkt, von dem aus ich auch gestartet bin. Pünktlich… 10 Minuten mehr, 10 Minuten weniger, vielleicht eine halbe Stunde. Es kommt nicht darauf an. Kairos, der günstige Augenblick. Und was ist, denken Martin und ich noch einmal gemeinsam, wenn der größte Sinn des Menschen darin besteht, frohen Mutes im Voranschreiten, zufrieden im Rückblick und voller Freude offen für die Gegenwart zu sein? Denn was wäre, wenn das Schicksal geschrieben steht, von uns und anderen des Nachts und in unserer Innenwelt geschaffen oder auch nicht, welche Wahl haben wir dann noch, wo wir landen können und ob und wann wir weitermüssen und es dann nur noch das wie ist, das uns bleibt?
Gerade falte ich meinen Gleitschirm zusammen, lege die Schnüre noch sorgfältig übereinander, doch merke schon, wie mich etwas zu drängen beginnt. Frank kommt mir entgegen. „Georg, alles klar?“, fragt er und reicht mir seine Hand. „Wie ist die Luft da draußen?“
„Alles Bestens“, antworte ich und nicke mit meinem Kopf in Richtung Abendrot. „Traumhaft wie immer.“
„Ja, was ein Bild“, stimmt Frank ein. „Was liegt noch an? Heute Lust auf ein Bier?“
„Danke“, gebe ich zurück, denn wie wohl er meinen besten Freund gerade kennenlernt, meinen zweiten Vornamen kennt er nicht. „Ich muss gleich schon weiter“, sage ich und ziehe den Schirm hinter mir her.
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