Aufgewühlt

Als sie die Tür zur Wohnung öffnet, stellt sie fest, dass sie allein ist. Im Flur stehen nicht seine Schuhe, und auch die Winterjacke, die er zuletzt getragen hat, hängt nicht am Haken. Wo ist er noch um diese Zeit? Sie ist schon spät dran, nachdem sie sich mit Elena auf einen Drink getroffen hat. Normal kommt er direkt nach Hause – sei es von der Arbeit oder vom Fitness um die Ecke. Sie geht in die Küche, alles scheint wie sonst, auch kein Zettel auf dem Tisch, der ihr etwas mitteilen würde. Auch im Wohnzimmer ist alles an seinem Platz, Bad und Schlafzimmer liegen ruhig wie immer. Sie schaut auf ihr Handy – keine Nachricht. War etwas vorgefallen zwischen ihnen? Ihr fällt nichts ein. Oder war etwas passiert? Aber was hätte passieren sollen? Dann hätte sie längst eine Nachricht bekommen.

Manchmal hat sie sich wieder Zeit für sich gewünscht. Jetzt hat sie sie und weißt nichts, damit anzufangen. Es muss an der Unwissenheit liegen. Die versetzt sie in eine gewisse Ruhelosigkeit. Ob er wiederkommt? Und wenn ja, was würde sich geändert haben? Würde sich überhaupt etwas ändern? Was macht sie sich Gedanken darüber? Natürlich kommt er wieder.

Sie geht zurück ins Wohnzimmer. Den einen Thriller hat sie immer lesen wollen. Den, in dem die Babysitterin die Kinder entführt, auf die sie eigentlich hatte aufpassen sollen. Sie zieht das in ein schwarzes Cover eingehüllte Buch aus dem Regal und setzt sich in den Sessel. Es ist schwierig, etwas mit der Zeit anzufangen, wenn man sie hat, und gleichzeitig ein anderes Puzzlestein aus der Welt gebrochen ist.

Ihr Handy klingelt. “Unbekannte Nummer” steht im Display.
“Hallo?” Sie erkennt seine Stimme sofort beim ersten Wort.
“Kannst du reden? Bist du allein?”
Er lässt die Bemerkung an sich vorüberziehen, und auch sie weiß, was er meint. Nur was soll sie jetzt sagen? Soll sie wirklich sagen, dass sie jetzt um diese Zeit allein ist? Was ruft er so spät an? Was ruft er überhaupt an?
“Ja, ich kann reden”, sagt sie.

(Auszug aus der NaNoWriMo-Geschichte)