Am Abend, als der russische Eishockey-Superstar Alexander Ovechkin, und hier ist der oft inflationär verwendete Begriff Superstar unbedingt gerechtfertigt, in seiner nunmehr fünfzehnjährigen NHL-Profikarriere seine persönliches Torkonto auf unglaubliche 700 Treffer aufstockte, war es ein Zamboni-Fahrer aus Toronto, der ihm die Schlagzeilen stahl.
Storm Brew, you are amazing!!!! https://t.co/Gvvz7jP2Dn
— Sarah Ayres (@35Ayres) February 25, 2020
Im amerikanischen Sportsystem, in dem kaum etwas dem Zufall überlassen ist, jugendliche Spieler schnell und früh nach Leistung kategorisiert werden und das Bildungssystem mindestens so sehr auf den Sport ausgerichtet ist wie umgekehrt, ist es selten genug, dass ein Spieler unter dem Radar sämtlicher Scouts, Trainer und Klubverantwortlichen eine Karriere startet. Normalerweise werden die Spieler ab circa 18 Jahren in einem Auswahlverfahren von den Profiteams der NHL verpflichtet und je nach Tauglichkeit früher oder später in den Profikader geholt. Einmal durchs Raster gefallen schaffen es Spieler kaum mehr in die beste Liga der Welt. Neben gelegentlichen Spätstartern gibt es aber einen ausgesprochen ungewöhnlichen Weg, um doch noch in den Profigenuss zu kommen.
Wie in anderen Sportarten auch besitzt in der NHL jedes Team nämlich nur einen Ersatztorwart auf der Bank. Sollte sich der Starting Goalie verletzen oder schlecht spielen, wird dieser Backup eingewechselt. Für den äußerst unwahrscheinlichen Fall, dass dann auch dieser ausfällt, geht nicht etwa ein Feldspieler ins Tor (mit zusätzlicher Schutzkleidung natürlich), sondern stattdessen kommt der sogenannte Emergency Backup ins Spiel. Der stammt aus der Stadt des Gastgebers und sitzt für den Fall aller Fälle auf der Tribüne. Das Kuriose: Beide Teams können im Notfall auf ihn zurückgreifen.
Gewohnter Platz auf der Tribüne
Als David Ayres, 42-jähriger Eismeister (Zamboni-Fahrer) aus Toronto, am Vortag noch das Eis für die niederklassigen Toronto Marlins (AHL) bereitete, ahnte er nicht, dass er am nächsten Abend selbst in einer noch größeren Arena im Rampenlicht stehen würde. Es ist anzunehmen, dass Ayres am Abend des Spiels noch Kenntnis davon nahm, dass Alexander „The Greight“ Ovechkin, (für englisch eight, seine Rückennummer), die magische Grenze von 700 Toren knackte. Ihm wird klar gewesen sein, dass er ihn noch weniger als alle anderen aktiven Goalies daran hindern würde, seine Torausbeute weiter auszubauen. Seine Frau wird ihm vor dem NHL-Spiel zwischen den Carolina Hurricanes zu Gast bei den Toronto Maple Leafs vielleicht noch geschrieben haben, dass er sein Sitzkissen für seinen vorgesehenen Platz auf der Tribüne nicht vergessen solle. David Ayres wird vielleicht gelächelt haben, vielleicht nicht ganz so enthusiastisch wie er es später nach dem Spiel beim Blick in die Fernsehkameras tun sollte. „That’s my Baby!“, würde seine Frau später dazu twittern. Und „F*** ME!“, was in seiner Zweideutigkeit und der Euphorie sicher nur so viel heißt wie: „Nimm mich nicht auf den Arm!“ (umgangsprachlich: “Verar*** mich nicht!”)
That’s my baby!!!!!! https://t.co/sw7UrCAoU6
— Sarah Ayres (@35Ayres) February 23, 2020
Sorgen bei Carolinas Coach
Es ist dagegen nicht überliefert, ob Ayres, der dann bei der NHL-Partie zwischen Toronto und Carolina auf seinem Tribünensitz Platz nahm, ein Zucken durchfuhr, als Carolinas erster Torwart, Jason Reimer, bereits nach wenigen Minuten verletzt ausgewechselt werden musste. Das passierte hin und wieder. Erst jüngst hatte Ayres beim Spiel in der zweitklassigen AHL ebenfalls als Emergency Goalie auf der Tribüne gesessen und sich nach einer Verletzung umziehen müssen (war aber nicht zum Einsatz gekommen). Für Reimer nahm jedenfalls Petr Mrázek den Platz zwischen den Pfosten für Carolina ein und die Dinge nahmen ihren Lauf. Mitte des Spiels führten die Gäste bereits mit 3:1, und für die knapp 20.000 heimischen Fans in der großen Arena war es wieder mal eine Begegnung mit dem so berühmten wie wiederkehrenden Murmeltier. Toronto fand immer wieder Wege eine Saison in den Sand zu setzen.
Heavy Collision
amerikanischer Fernsehkommentator
Beim direkten Konkurrenten aus Carolina stand Trainer Rod Brind’Amour hinter der Bande und schloss seinerseits in der 32. Minute des Spiels die Augen. Ersatztorwart Petr Mrázek war aus dem Tor geeilt, in der Annahme den in sein Drittel schlitternden Puck vor dem heranwetzenden Gegenspieler Zach Hyman, zu erreichen. Beide achteten nur auf die Hartgummischeibe, und „heavy collision!“, rief sofort der amerikanische Kommentator im Fernsehen, als Beide zusammenstießen. Mrázeks Torwarthelm flog durch die Luft, Zuschauer in der Nähe sprangen aus ihren Sitzen. Mrázek blieb schmerzgekrümmt am Boden liegen. Ein Betreuer eilte zu ihm und schnell wurde klar, dass ein erneuter Torwartwechsel nötig sein würde. Tribünengast David Ayres war am Zuge – in seiner Heimatstadt Toronto für die Gästemannschaft aus Carolina. Als Ayres kurze Zeit später die vertraute Eisfläche betrat, wäre er beinahe zum falschen Tor gefahren und wurde von seinen spontan neuen Mitspielern abgeklatscht zum richtigen Tor dirigiert.
Erste Aktion von Ayres führt zum 4:1
Im anschließenden Powerplay, dass Carolina für den harten Einsatz von Zach Hyman erhielt, erzielten die neue Mannschaft von Ayres tatsächlich direkt das 4:1. Der Aushilfstorwart trug mit seiner ersten Aktion entscheidenden Anteil daran. Er hatte das Spiel schnell gemacht, indem er den auf sein Tor zukommenden Puck direkt zurück in die Bande spielte. Leicht belustigt hatten einige Heimfans seine Puckannahme bejohlt, doch war ihnen das Lachen schnell vergangen. Auch einen Emergency Backup sollte man nicht vollständig unterschätzen. Erst 2018 hatte für das Heimteam der Chicago Blackhwaks ein gewisser Scott Foster in einem ähnlichen Notfall für die letzten vierzehn Minuten des Spiels das Tor hüten müssen und alle Schüsse auf sein Tor abwehren können. Chicago hatte zu diesem Zeitpunkt des Spiels aber bereits deutlich geführt. David Ayres hingegen hatte noch die Hälfte der Spielzeit vor sich, und die erschien prompt lang, als Toronto nun ihrerseits mit dem ersten Schuss auf sein Tor einnetzte. Carolinas Spieler munterten Ayres auf, und auch noch, als nur ein paar Sekunden später auch der nächste Schuss sein Ziel fand.
Auf einmal stand es nur noch 4:3 für Carolina und Coach Rod Brind’Amour blies die Backen auf. Dieser so immens wichtige Sieg gegen einen direkten Konkurrenten um die Playoff-Plätze stand plötzlich auf der Kippe. Immerhin konnte Ayres den dritten Schuss auf sein Tor entschärfen, ehe es in die zweite Drittelpause ging. Selbst einige Spieler von Toronto klatschten ihn beim Gang in die Kabine ab. Es ist die Ironie der Umstände, dass sich der Emergency Goalie zumeist beim Heimteam fithält und Ayres somit auch einige Spieler der Maple Leafs persönlich bekannt waren.
Als schließlich das Schlussdrittel begann, kam einem der amerikanischen Kommentatoren bereits das Wort „unfair“ über die Lippen. Wie viele der kommenden Schüssen würde Ayres parieren können? Es war leicht zu erkennen, dass seine Bewegungen verglichen mit denen regulärer NHL-Torhüter langsamer und hölzern waren. Wie der Kommentator rechneten viele damit, dass jeder weitere präzise Schuss den Weg ins Tor finden würde. Ein Kantersieg der Maple Leafs, ein 8:4 oder gar ein zweistelliges Resultat, schien durchaus möglich. Doch in der Kabinenbesprechung hatte Rod Brind’Amour offenbar alle Register gezogen und das Team eingeschworen, für den kurzfristig eingesprungenen Ersatztorwart zu kämpfen. Die Spieler der Hurricanes taten genau das.
Carolina kämpft aufopferungsvoll
Hatte Ayres im zweiten Abschnitt nur einen der drei auf sein Tor abgefeuerten Schüsse halten können, sorgten die Verteidiger vor ihm nun dafür, dass die Maple Leafs weniger platzierte Abschlüsse von den Seiten nehmen mussten und nicht mehr direkt vors Tor kamen. Während die Maple Leafs möglicherweise sogar annahmen, mit nur halber Kraft zum Erfolg zu kommen, war Carolina hellwach und nutzten direkt den ersten Fehler in der gegnerischen Verteidigung zum 5:3. David Ayres parierte weitere der bedingt gefährlichen Schüsse, die Hurricanes erhöhten ihrerseits auf 6:3. Fast schon lethargisch wirkte das Auftreten von Toronto nun im Gegensatz zu dem immer aufopferungsvoller kämpfenden Gegner. Während einige Heimzuschauer das Stadion bereits verlassen hatten, applaudierten die verbliebenen dem Ersatz des Ersatztorwarts des Gästeteams, David Ayres.
500 Dollar und Aufnahme in die Hall of Fame
Die letzten Minuten, die letzten Sekunden tickten von der Uhr, die Schlusssirene ertönte, die Spieler der Carolina Hurricanes stürmten wie bei einem Erfolg in der Verlängerung auf ihren Torhüter zu und schlossen ihn im Jubel in ihre Mitte. Noch bevor David Ayres vor die Fernsehkameras trat, noch bevor seine neuen Mitspieler ihm in der Kabine eine Bierdusche spendierten und er am nächsten Tag wieder zu einer Trainingseinheit in Toronto aufs Eis gehen sollte, wurde er zum First Star of the Game gewählt. Auch der Sieg in der Torwartstatistik wurde ihm zugeschrieben, da er von dem drei Torhütern der Hurrincaes die längste Zeit auf dem Eis gestanden hatte. Somit avancierte Ayres zum ältesten Torwart, der jemals sein Debüt in der NHL gewinnen konnte. Alex Ovechkin wurde in den Medien für den Meilenstein des 700. Torerfolgs ebenfalls gewürdigt. Zeitlupen seines Treffers wurden von eigens dafür gebuchten Werbepartnern präsentiert, doch war es am nächsten Tag David Ayres, der wiederholt vor die Kameras gebeten wurde. Er und das Team hatten, wie es Trainer Rod Brind’Amour ausdrückte, für alle eine magische Erinnerung kreiert. Versüßt wurde sie Ayres mit einem Honorar von 500 Dollar. Das getragenen Trikot durfte der 42-jährige Profi-Debütant Ayres außerdem behalten. Mittlerweile hängt die Nummer 90 in der Hall of Fame der NHL – diese befindet sich zufälligerweise in Ayres’ Heimatstadt, in Toronto.
I am the happiest, proudest woman on the planet because my human got to live out his ultimate dream.
— Sarah Ayres (@35Ayres) February 23, 2020
…I’m also surprised I still have a voice. https://t.co/qTglhZypG5
Schreibe einen Kommentar