aus: (Zw)ei(n)sam
Ein märchenhaftes Palindrom vom Verstehen und Vergeben
Umso tiefer die junge Königin in den Keller vorgedrungen war, desto unverständlicher waren ihr die Fälle geworden, und auch die nächste Verfehlung wurde ihr nicht auf Anhieb klar. Auf dem Monitor sah sie nämlich nur einen Schuhmacher, der einem jungen Mann ein Paar Schuhe überreichte. Das war alles, dachte sie und wieder und wieder schaute sie sich den Film an. Und da erst verstand sie den alten Brauch, den jede junge Königin instinktiv kennt, aber nur gegenüber dem Schuhmacher eines Königs auszusprechen in der Lage ist. Plötzlich wurde sie ganz aufgeregt, denn sie ahnte nun, dass ein König zu ihr unterwegs sein könnte. Schnell ließ sie den Schuhmacher zu sich kommen.
(Zw)ei(n)sam – Der Schuhmacher.mp3
„Ich habe ihm die falschen Schuhe gegeben“, begann dieser und fiel vor ihr auf die Knie. „Er war zu früh und er ist damit losgegangen. Die Schnürsenkel sind locker gewesen und die Sohle hat noch nicht das Profil, das seiner gerecht werden sollte. Er war zu früh, doch er könnte ein König sein. Es tut mir leid.“
Schuldbewusst zitterte der Schuhmacher in seinem Gewand und auch die junge Königin wusste nicht so recht, was zu tun war. Sie war sich nun zwar sicher, dass ein König zu ihr unterwegs war, doch gleichzeitig wurde sie traurig darüber, dass es noch lange bis zu seiner Ankunft dauern würde – denn noch trug er nicht die passenden Schuhe.
„Lieber Schuhmacher“, sprach sie da und war selbst erstaunt über ihre Worte. „Mach dir keine Sorgen. Du hast ihm die richtigen Schuhe gegeben. Es ist das Schicksal der Schuhmacher, ihm die Schuhe dann auszuhändigen, wenn er bei dir aufkreuzt. Wenn er zu früh war, wird er wieder kommen und die Schuhe erhalten, die eines Königs würdig sind.“
Wie sie so sprach und der Schuhmacher vor ihr kniete, hätte sie ihn am liebsten freigelassen, doch sie wusste es besser. Ein Schuhmacher würde niemals frei sein und er würde immer bei seinem König bleiben. Es war seine Bestimmung, denn jeder König hat seinen eigenen Schuhmacher und ohne dessen Unterstützung ist er verloren.
„Ich werde mich sogleich an die Arbeit machen und die großartigsten Schuhe entwerfen, die es je für ihn gegeben hat.“ Mit diesen Worten verschwand der Schuhmacher so plötzlich wie er aufgetaucht war.
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