Seine Rede an die Nation
Du hast die Wahl. Gleich wirst du nach draußen treten, hast seine Rede im Kopf und wirst dich auf ihn verlassen können, wie du dich schon immer auf ihn verlassen konntest. Das hat er dir gesagt und du weißt, dass es stimmt. Schließlich hat er dir schon mehr als tausend Zeilen geschrieben und es ist nicht beim höflichen Sie zwischen euch geblieben. Ihr habt mehr geteilt als nur die politische Richtung, für die ihr gemeinsam einsteht, doch genau damit hat das Dilemma begonnen. Beziehungsweise vielmehr damit, dass mittlerweile mehr als nur ihr beide von dieser Gefälligkeit wisst und die Öffentlichkeit nach mehr als nur dieser Verfehlung sucht.
Dabei hast du niemanden getötet, niemanden angegriffen, niemanden zu etwas gezwungen, doch deine Tat wiegt offensichtlich genauso schwer. Denn du hast Werte verraten, für die du einstehst. Es ist nicht so, dass du es gerade getan hast, es ist sogar schon lange her, doch die Welle der Empörung ist gerade jetzt über dich hereingebrochen, als du dich auf dem Gipfel deines Schaffens wähntest.
Wir holen dich da raus, haben sie gesagt, während die wilde Meute immer noch deinen Kopf fordert, wie sie schon einige davon gefordet und geradezu genüsslich verspeist hat. Vor der Tür warten sie nur darauf, dich in Stücke zu reißen, um immer noch nicht gesättigt weiterzuziehen. Bleib einfach deiner Linie treu, streite alles ab, war euer Konsens, denn schließlich hast du nichts Schlimmes getan. Jedes Abweichen von der Perfektion macht dich angreifbar, denn sie ist es gewesen, die dich soweit gebracht hat. Und umso perfekter du agiert hast, desto mehr hat die öffentliche Moralinstanz, die du selbst mitgeprägt hast, auf einen Fehler von dir gewartet. Du hast jetzt keine Daseinsberechtigung mehr in dieser Welt, denkst du und welche hast und hättest du überhaupt gehabt, wenn die Welt schon vor dir so perfekt gewesen wäre, wie du sie gerne gepredigt hast.
Diese Rede ist deine letzte Chance, und obwohl du nicht mehr konntest, hast du seine Zeilen die ganze Nacht hindurch gelesen. Weiter und weiter, wieder und immer wieder, bis die Worte wie ein Vogel im leichten Wind vor deinem geistigen Auge dahingegelitten sind. Alles perfekt ausgearbeitet, alles schlüssig, nur herrscht dort draußen mittlerweile ein unbändiger Sturm, dem diese geschwungenen Flügel nicht gewachsen sein werden. Du wirst nicht damit durchkommen, dein Instinkt weiß es bereits und auch dein Verstand ist nicht mehr bereit, dich vor dieser Erkenntnis zu schützen. Die Umfragewerte sind in den Keller gerauscht und Zahlen sind doch alles, was dir zeit deiner Karriere Bedeutung und Rückhalt gegeben hat.
Mindestens zehn Prozentpunkte, hat er gesagt, holen wir uns heute zurück und du glaubst ihm, denn er kennt die Spielregeln mindestens genauso gut wie du. Er hat dich angetrieben und seitdem er an deiner Seite ist, hast du die große Karriere gemacht, ihn im Schatten mitgenommen. Er hat dich in deiner Perfektion kontrolliert und jedes noch so kleine Abweichen registriert und hinterfragt. Und ausgerechnet die Reise, zu der du ihn damals eingeladen hast, ist dir nun zum Verhängnis geworden. Denn du hast die paar Euro dafür nicht selbst gezahlt, das Volk war es, das daran mit wahrscheinlich nicht einmal einem Cent pro Kopf beteiligt war. Es war ein Gefallen, ein Geschenk, doch es war gegen alle Prinzipien und das weißt du besser als jeder andere.
Du, der sich schon als Jugendlicher dazu gezwungen hat, immer erst das Kleingeld auszugeben, bevor du dir erlaubt hast, einen Schein zum Bezahlen zu nehmen. Du, der zwei einzelne Markstücke im Portemonnaie gelassen hat, wenn du auch ein 2-Mark-Stück hättest nehmen können. Denn beim Silbergeld war es umgekehrt. Das waren die Spielregeln und sie entbehrten jeder Logik, doch du hast sie befolgt und jedes Abweichen hat dir Schuldgefühle gemacht und nicht selten eine Strafe nach sich gezogen. So bist du weit gekommen, zumindest war es das, was du gedacht hast. Genauso wie du mittlerweile jeden Abend die zwei Tabletten nehmen musst, weil du ohne gar nicht mehr schlafen kannst und das auch nicht mehr ändern würdest. Ausser gestern, denn da musstest du die Rede lesen, solange bis jedes Wort an seine Stelle gekettet war und es keinen Spielraum mehr gab für Fehler oder eigene Abwandlungen. Totgelernt hast du die Rede, bis du im Schein der Bürolampe eingeschlafen bist. Genauso werden die Worte rüberkommen, denn jeder wird merken, dass du nur sagst, was du gelernt hast, aber nicht das, was du wirklich meinst und fühlst.
Die Doppeltür schlägt auf, du hast das Rednerpult im Blick, das Blitzlichtgewitter bricht über dich herein. Jeder deiner Schritte wird von der Öffentlichkeit geprüft, und erst recht jedes deiner Worte. Sie sind der Maßstab, an der jede deiner Taten gemessen wird und der Grund, warum du von der Öffentlichkeit angeklagt worden bist und er dir diese Rede geschrieben hat. Was sie hören wollen und werden, spielt längst keine Rolle mehr. Das Urteil ist gefällt, ihre Texte im Computer. Die Konsequenzen, denkst du ein letztes Mal. Du hast sie immer wieder durchgespielt, und mitterlweile weißt du, dass du sie nicht überblicken kannst. Es wird schon gutgehen, hat er gesagt, wie immer, wenn du Zweifel hattest und bereit warst, die komplette Wahrheit zu sagen. Denn sie ist so einfach wie menschlich, doch hier geht es um etwas anderes. Oder etwa nicht? Zumindest hat er dich so immer wieder eingefangen, war es doch nicht deine Absicht, einen Fehler zu begehen und deshalb würdest du ihn auch niemals zugeben.
Das Gemurmel im Saal wird lauter genauso wie die Stimmen in deinem Kopf, die dich seit Tagen immer eindringlicher beknieen, dich endlich deinem Instinkt anzuvertrauen. Der größte Profiteur der ganzen Geschichte ist doch er, hörst du sie reden. Selbst du konntest dich der Spekulation, dass er es eines Tages zu deinem Nachfolger bringen könnte, nicht entziehen. Schließlich wäre es die logische Konsequenz, das weißt du, genauso wie alles in diesem Spiel einem vorhersehbaren Zwang geschuldet war und ist.
Nur selten überschreitet jemand eine verstanderbaute Grenze, vertraut seinem Gefühl und macht etwas anders. Deine Frau, deine Kinder, ohne Mut, sagst du dir, ohne dein Gefühl wärst du für immer allein geblieben. Reiß dich zusammen, versuchst du es noch einmal, doch nur sie sind es, die dich jemals daran erinnert haben, dass es nicht nur Zahlen sind, nicht nur Regeln, nicht nur der Zwang, etwas tun zu müssen, das du nicht einmal für richtig hälst, und deshalb nimmst du in diesem Moment deine Brille ab, reibst dir mit dem Zeigefinger und dem Daumen der linken Hand die Augen und plötzliche herrscht Stille um dich herum, du hörst nicht mal mehr das aufgeregt einsetzende Knipsen der Fotoapparate, du lässt es einfach zu, blickst nach unten, siehst nur die verschwommenen Zeilen dieser Rede vor dir, schluckst, gewinnst Kontrolle zurück, beherrschst dich wieder und du weißt nicht einmal, was du nun sagen wirst, als du wieder auf in die Kameras und in die Menschen schaust, und ob du überhaupt noch etwas sagen musst, doch seine Worte werden es ganz bestimmt nicht sein.
Peter Steinz meint
Schöne Anekdote und gut geschrieben, auch wenn der Drang zum Bandwurmsatz (man betrachte dabei bespielhaft das Prachtexemplar im letzen Absatz) es dem Leser abverlangt noch ein zweites oder drittes Mal zu lesen. Hier wären ein bis zwei Pünktchen mehr angebracht gewesen, um die Lesbarkeit zu erhöhen.
janmikael meint
Hallo Herr Steinz, willkommen zurück und danke für die Kritik. Ich bin ein großer Freund des ausufernden Satzes, der in diesem Falle tatsächlich beabsichtigt ist, um schnell gelesen, die unmittelbare Abfolge der Geschehnisse zu verdeutlichen, wenngleich ich verstehen kann, dass die langen Sätze schwer zu lesen sind und ich hin und wieder über den einen oder anderen Punkt mehr nachdenken sollte… 😉