Gießzwangfantasiestörung

Man kennt diese Sommernächte. Es ist warm, man findet kaum in den Schlaf, man lässt das Fenster offen.

Ich wohne im zweiten Stock eines Mehrfamilienhauses. Unten im Erdgeschoss unter anderem eine Familie mit Anschluss zum Garten. Ein schöner Garten – seit ein paar Tagen war allerdings niemand mehr dort zu sehen. Wohl im Urlaub die Nachbarn, habe ich mir irgendwann gedacht.

Ich weiß nicht, wann sie losgefahren aber exakt wann sie zurückgekommen sind: An diesem fensteroffenen Sommernachtsabend um 22:32 Uhr. Da nämlich reißt mich das Füllen einer Gießkanne aus meinem Schlummer. Man kennt dieses Geräusch, wenn der harte Wasserstrahl auf den Boden der noch leeren Gießkanne trifft.

Gut, der Nachbar war im Urlaub. Er kann nicht wissen, dass durch das Unwetter gestern sein halber Garten unter Wasser stand. Da kann man heute schon mal nachkippen – erst recht als besorgter Blumenliebhaber.

Ob er da die ganze Rückfahrt drüber nachgedacht hat? Wenn ich zu Hause bin, muss ich unbedingt sofort in den Garten! Koffer aus dem Auto, rein ins Haus, die Gieskanne füllen (vielleicht gar in umgekehrter Reihenfolge). Vielleicht wurde auch der Urlaub darauf abgestimmt. Schatz, wir müssen Sonntag zurück, nicht einen Tag länger und nicht später als 22.30 Uhr, das halten die Blumen nicht aus! Montag früh wäre alles verloren!

Die Details kann ich natürlich nicht wissen. Genauso wenig ob die Nachbarn tatsächlich im Urlaub gewesen sind. Ich weiß nur, dass der Blumenfreund das Ritual der Gießkannenwasserbefüllung jetzt zum dritten Mal durchführt, ehe nun auch seine Frau zu hören ist. Auch sie wuselt dort herum. Oder hat sie gegossen? Eigentlich ist er doch der Mann für die Kanne. Meine Fantasie beginnt zu bröckeln.

“Ach, der neue Nachbar”, höre ich jetzt die Frau unten in die Dunkelheit rufen. Ich erinnere mich an die Renovierungsarbeiten in der letzten Woche. Im Erdgeschoss ist jemand Neues in eine der Wohnungen eingezogen. Den Erstkontakt mit diesem Frischling erlebe ich nun live.

Der neue Nachbar, dem Tonfall nach ein Mann, brabbelt für mich aber nur unverständlich vor sich hin. Die Frau dagegen antwortet klar und höchstmotiviert “Ja, wir sind gerade aus dem Urlaub zurückgekommen!” Wer hätte es geahnt?

“Na, dann ist ja alles klar!”, sagt auch der neue Nachbar – zumindest in meiner Fantasie. Für mich zu hören ist nur wieder das Gebrabbel.

Dann ist alles ruhig.

Das bleibt es bis wenigstens um halb zwölf. Dann wird die Gartengarnitur auf dem Pflasterboden verrückt. Womöglich damit sie zur Mitternachtsstunde nicht im Schein des Mondlichts und morgen früh auch ja direkt im Schatten steht. Zwangsstörungen gibt es viele. Mich selbst plagt seit heute wieder die der Gießzwangfantasie. Dabei dachte ich, ich hätte sie endlich abgelegt.